Sachverständige für Cannabis-Medikation? Ist das ein Beruf? Die Diplom-Psychologin Petra Dahl bietet diese Ausbildung in ihrer Praxis bereits seit 2017 an. Die berufliche Weiterbildung ist zertifiziert und wird in Kooperation mit verschiedenen Experten angeboten. Frau Dahl arbeitet bereits seit 20 Jahren mit Cannabispatient*innen.
Die Idee hinter der Ausbildung ist, dass Sachverständige für Cannabis-Medikation durch ihre vorbereitenden Arbeiten Ärzt*innen wie auch Patient*innen unterstützen. Dabei geht es beispielsweise um die Begleitung der Kranken auf dem Weg zur Kostenübernahme. Aber auch um die Dosisfindung und die Einstellung auf das jeweilige Cannabis-Produkt.
Wir von Leafly.de haben mit Petra Dahl über die Ausbildung gesprochen, die sie regelmäßig anbietet.
Petra Dahl im Interview: Ausbildung zum zertifizierten Sachverständigen für Cannabis Medikation
Leafly.de: Frau Dahl, welche Fähigkeiten und Kenntnisse sollen die Teilnehmenden in ihrem Kurs erwerben? Was ist das Ausbildungsziel?
Petra Dahl: Das Ausbildungsziel ist, deutschlandweit eigenständige, gut vernetzte, immer auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft arbeitende Fachleute für medizinisches Cannabis in Form “zertifizierter Sachverständiger für Cannabis-Medikation” zu etablieren.
Diese Fachleute sollen, wie die ersten es jetzt auch schon tun, in Anstellungen und als Selbstständige, in Kliniken, für Ärzte, Patienten und Apotheken zur Verfügung stehen. Cannabis als Medikament ist sehr vielseitig einsetzbar, aber man benötigt viel Wissen und Erfahrung, um es individuell für den jeweiligen Patienten einsetzen zu können.
Auch in Zukunft wird diese Medikation – aufgrund der unterschiedlichen Stoffwechselsituation im Körper jedes Einzelnen – einer individuellen Begleitung bedürfen. Für jede medizinische Fachkraft stellt dies eine sehr große Herausforderung dar. Denn im Gesundheitswesen tätig zu sein, bedeutet auch immer, stark beansprucht zu sein. Fort- und Weiterbildung zu Cannabis als Medikament sind besonders umfangreich und müssen dazu noch ständig aktualisiert werden.
Sachverständige unterstützen Cannabispatienten
Leafly.de: Was bedeutet das für die Arbeit mit Cannabispatienten konkret?
Petra Dahl: Aktuell zeigen die Statistiken, dass viele Patienten, bei denen Cannabis sehr hilfreich sein könnte, ihre Therapien abbrechen – meist aufgrund von unerwünschten Nebenwirkungen. Damit das medizinische Fachpersonal und die Patienten mit Cannabis als Medikament nicht alleine gelassen werden, stehen ihnen die Sachverständigen mit ihrem aktuellen Fachwissen zur Verfügung. Sie können durch eine gründliche Anamnese, einer Begleitung bei einer sanften Eindosierung, die auf den jeweiligen Patienten abgestimmt ist, Nebenwirkungen minimieren und damit Abbrüche verhindern. Die Patienten profitieren von den verschiedenen Einnahmemöglichkeiten. Sie dokumentieren mithilfe des Sachverständigen ihre Symptome und die Veränderungen während der Einstellungsphase. So finden sie für sich das passende Medikament in der richtigen Dosierung und Einnahmeform.
Möglich ist das durch Menschen, die sich über Jahre oder Jahrzehnte schon intensiv mit Cannabis auseinandergesetzt haben. Sie haben sich selbst medikamentiert, sich selbst ständig weitergebildet und bringen als Autodidakten schon viel Wissen mit. Ihr Potenzial wird durch die Ausbildung zum zertifizierten Sachverständigen für Cannabis-Medikation nutzbar gemacht.
“Bindeglied zwischen medizinischem Fachpersonal und Patienten”
Petra Dahl: In der Ausbildung erhalten Sachverständige daher in erster Linie Hilfen und Strukturen, die es ihnen ermöglichen, ein Bindeglied zwischen medizinischem Fachpersonal und Patienten zu sein. Sie erwerben Wissen zu den Rechten von Patienten, Ärzten und Institutionen und zu ihren Möglichkeiten, diesen hilfreich zur Seite zu stehen.
Leafly.de: Sie schulen die Teilnehmenden auch in rechtlichen Fragen?
Petra Dahl: Ja, sie werden geschult zu den Gesetzen, die Cannabis als Medizin betreffen, und zu den rechtlichen und formalen Gegebenheiten ihrer Tätigkeit. Sie erweitern ihr Wissen zu Behandlungsabläufen, Indikationen, Cannabis-Medikamenten und den Leitlinien. Sie üben das strukturierte und empathische Vorgehen bei der Beratung von Patienten. Und sie erlernen wissenschaftliche Texte, Studien, aber auch Patientenakten zu analysieren und zu interpretieren und das Wichtigste für das medizinische Fachpersonal zusammenzufassen.
Die Sachverständigen arbeiten mit vorgegebenen, standardisierten Anamnesen und Dokumentationen und erstellen daraus Abschlussberichte, mit denen auch Kostenübernahmeanträge gestellt werden können. Alle Dokumentationen sind so gestaltet, dass sie anonymisiert der wissenschaftlichen Auswertung zur Verfügung stehen. Jeder Schritt ist dabei für das medizinische Fachpersonal transparent, nachvollziehbar und wird immer in enger Absprache vollzogen.
Ausbildung: Teamarbeit wird großgeschrieben
Leafly.de: Ihrer Homepage ist zu entnehmen, dass die Gruppe stark im Team arbeitet …
Petra Dahl: Jeder, der sich von uns ausbilden lässt, muss die Bereitschaft und die Fähigkeit mitbringen, im Team zu arbeiten. Ein Sachverständiger arbeitet nie alleine, ist immer in das Netzwerk der Sachverständigen für Cannabis-Medikation eingebunden. So steht jedem Sachverständigen nicht nur das Wissen aller anderen, sondern auch das umfassende Wissen eines interdisziplinären Teams zur Verfügung.
Die Sachverständigen für Cannabis-Medikation nutzen den „Entourage Effekt“ nicht nur beim Wirkstoff Cannabis, sie selbst arbeiten nach demselben Prinzip. Denn niemand kann alles wissen, aber ein gutes Netzwerk bietet immer jemanden, der es weiß oder weiß, wen man fragen kann, wo man es herausfindet.
Ziel ist daher – neben einer fachlich qualifizierten Ausbildung aller Teilnehmer zu kompetenten zertifizierten Sachverständigen für Cannabis-Medikation – das Netzwerk stetig zu erweitern, Fragen aufzuwerfen, Antworten zu finden und die Kompetenz aller damit zu erweitern.
Dauer der Ausbildung
Leafly.de: Das hört sich äußerst umfangreich an. Wie lange dauert denn die Ausbildung und wer führt sie durch?
Petra Dahl: Die Ausbildung beginnt mit einem dreitägigen Block, bei dem sich Bewerber und Sachverständige begegnen, um miteinander und voneinander zu lernen. Wer diesen Einstieg inklusive der ersten Prüfung erfolgreich absolviert hat, wird in Online-Netzwerktreffen, Seminaren, durch Hospitationen und durch Supervision bei allen weiteren Schritten begleitet.
Die Mitarbeit im Netzwerk, die Beteiligung an den Fort- und Weiterbildungen sorgen für Zusammenhalt und den Austausch der Sachverständigen und der interdisziplinären Teilnehmer.
Insgesamt durchläuft jeder zukünftige zertifizierte Sachverständige für Cannabis-Medikation vier Stufen: vom Bewerber zum Teilnehmer, zum Sachverständigen, zum Dozenten und letztendlich zum Supervisor. Dabei werden diverse Fähigkeiten geschult, aus dem psychologischen wie dem medizinischen Bereich. Aber auch die Themen Ernährung und wissenschaftliches Arbeiten kommen nicht zu kurz.
Die gesamte Ausbildung dauert mindestens 2 Semester, höchstens aber 2 Jahre. Die Dauer hängt maßgeblich davon ab, wie viel Grundwissen in den einzelnen Gebieten und wie viel Fachwissen zu Cannabis als Medikament der Einzelne schon mitbringt.
Detaillierte Informationen zu den Ausbildungsinhalten erhält jeder Interessierte nach der Vorqualifikation. Die Ausbildung wird ständig durch das abgegebene Feedback, aber auch bei jedem Netzwerktreffen, online wie offline, weiter optimiert.
“Interdisziplinäre Zusammenarbeit macht uns effektiver”
Petra Dahl: Die steigende Zahl der teilnehmenden Fachleute aus verschiedenen Fachrichtungen eröffnen weitere neue Ausbildungsbereiche. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit und der Zusammenschluss in einem Netzwerk macht uns immer effektiver und vielseitiger.
Die Ansprüche an die Ausbildung steigen, nicht nur vonseiten der Sachverständigen selbst, sondern auch durch die voranschreitende Forschung. Daher wird jede Ausbildungseinheit in inhaltlichen wie auch formalen Grundlagen bis zum nächsten Block überarbeitet und erweitert.
Kooperation und Austausch
Leafly.de: Haben Sie bei der Ausgestaltung dieser Fortbildung mit jemandem kooperiert?
Petra Dahl: Die Idee dieser Ausbildung entstand letztendlich durch Patienten mit einer Ausnahmegenehmigung des BfArM (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) die eine MPU (Medizinisch-psychologische-Fahreignungsuntersuchung) mit medizinischem Cannabis machen mussten. Ich arbeite schon seit 20 Jahren mit Cannabispatienten und Cannabiskonsumenten und habe mich intensiv mit der Thematik Cannabis als Medikament auseinandergesetzt.
“Blüten sollen meiner Meinung nach in Zukunft ersetzt werden”
Petra Dahl: Als im März 2017 dann erste gesetzliche Regelungen erfolgten, begann ich deutschlandweit Vorträge zu medizinischem Cannabis halten. Das von mir befürchtete „Ablaufdatum“ der Verordnungsfähigkeit von Cannabisblüten am 31.03.2022, die Begleiterhebung, die keine Begleitmedikation erfasst und die Entwicklung neuer Medikationsformen durch die Pharmaindustrie sahen zu Anfang viele Patienten nicht als Gefahr für Blüten. Ich wartete darauf, dass der DHV oder der ACM aktiv Daten von Patienten mit Blüten erhob. Als nichts geschah, beschloss ich selbst wissenschaftlich fundierte, anonyme Dokumentationen für Patienten anzufertigen und zu verbreiten, um insbesondere die Wirksamkeit von Blüten, die ja meiner Meinung nach in naher Zukunft weitgehend durch pharmazeutisch erzeugte Extrakte ersetzt werden sollen, nachzuweisen.
Dr. Peter Cremer-Schaeffer vom BfArM sagte in der Zeitung Der Schmerz: „Mittelfristig muss der mit Cannabisarzneimitteln erfolgte Systembruch in der Arzneimittelversorgung behoben werden und die Therapie in der Regel mit zugelassenen Fertigarzneimitteln erfolgen.“ Und weiter: „Die Versorgung von Patientinnen und Patienten muss mittelfristig mit geprüften und arzneimittelrechtlich zugelassenen Fertigarzneimitteln erfolgen.“ Solche Aussagen belegen, dass meine Befürchtung durchaus angemessen ist.
Zusammenarbeit mit Studierenden, Anwälten und Ärzten
Leafly.de: Und mit wem arbeiten Sie konkret zusammen?
Petra Dahl: Bei den Dokumentationsvorlagen arbeitete ich eng mit Studenten der Psychologie und Soziologie zusammen, um einen wissenschaftlichen Standard zu erreichen. Schnell wurde uns deutlich, dass Patienten eine solche doch recht aufwendige und anonymisierte Dokumentation alleine nicht leisten können.
Also musste als nächster Schritt eine Fort- und Weiterbildung geschaffen werden, damit es jemanden gab, der diese Dokumentationen erheben konnte. Das war sozusagen die Geburtsstunde des zertifizierten Sachverständigen für Cannabis-Medikation. Die Fort- und Weiterbildung wurde in den letzten anderthalb Jahren dann stetig erweitert, so das jetzt Patienten begleitet und medizinisches Fachpersonal von Sachverständigen unterstützt werden kann. Gleichzeitig führen sie die Dokumentationen qualitativ hochwertig durch. Schon in der ersten Fortbildung war ich positiv überrascht, welch außerordentlich hohes und qualitatives Fachwissen zu Cannabis-Medikation die Teilnehmer vorweisen konnten.
Die Zusammenarbeit mit den Strafrechtsanwälten Patrick Welke und Dr. Jörg Becker von der Kanzlei Becker Behlau in Heidelberg, mit denen ich Vorträge zu Cannabis und Recht halte, ist bei juristischen Fragen eine große Hilfe. Mehrere Apotheken im näheren und weiteren Umfeld, aber insbesondere die Hanf Apotheke mit Christian Hirschfeld, wirken ebenfalls an der Optimierung der Ausbildung mit.
Verschiedene Ärzte, unter anderem Ute Geissert-Kern, sind meine Ansprechpartner für medizinische und formale Fragen. Die Psychologiestudentin Stephanie Turton aus den USA versorgt mich mit aktuellem Fachwissen aus den USA, ebenso wie viele Patienten ihre wertvollen Erfahrungen mit einbringen und ihre Sorgen mit uns teilen.
Voraussetzungen und Einsatzmöglichkeiten der Ausbildung
Leafly.de: Welche Voraussetzungen müssen die Teilnehmenden mitbringen?
Petra Dahl: Erfahrungen im medizinischen Bereich sind vorteilhaft, aber keine Voraussetzung. Ein breit gefächertes Grundwissen bezüglich Cannabis, eine gute Allgemeinbildung und die Bereitschaft zu lernen und im Team zu arbeiten sind die relevanteren Voraussetzungen.
Leafly.de: Welche Jobperspektiven erhalten die Absolvent*innen durch diese Ausbildung?
Petra Dahl: Diese Ausbildung ist sehr vielseitig einsetzbar. Erste Förderungen durch die ARGE als Einzelmaßnahme, Existenzgründerdarlehen für sich selbstständig machende Sachverständige zeigen, dass der Bedarf für zertifizierte Sachverständige für Cannabis-Medikation in der Gesellschaft gesehen wird.
Dem Sachverständigen stehen viele Arbeitsgebiete offen. Die aktuell Ausgebildeten haben Beschäftigungen in Kliniken, Apotheken, auf Palliativstationen und als selbstständige Berater.
“Die Praxis hat einen hohen Anspruch”
Leafly.de: Durch wen ist die Ausbildung zertifiziert?
Petra Dahl: Die psychologische Praxis Petra Dahl ist die offizielle Stelle für den zertifizierten Sachverständigen für Cannabis-Medikation. Die Praxis hat seit 20 Jahren einen hohen Anspruch an die Ausbildung von Kollegen, die Erstellung von Gutachten und ist gut etabliert. Der Name steht für qualitativ hochwertige Arbeit und hat neben der guten Expertise auch ein großes Netzwerk, so hat es sich geradezu angeboten, die Praxis als Zertifizierungsstelle zu wählen.
Eine Erweiterung hin zu einem vielfältigeren interdisziplinären Lehrangebot ist aber schon in Arbeit. Die beim letzten Offline-Netzwerktreffen gegründete Deutsche Cannabis Akademie (DCA), eine Gemeinschaft aus interdisziplinären Fachleuten und Sachverständigen, soll – neben der Ausbildung der Sachverständigen – weitere Inhalte möglich machen. Wir denken an Fort- und Weiterbildungsangebote für medizinisches Fachpersonal, Vorträge und Schulungen für Patienten und alle anderen an Cannabis als Medizin interessierte Menschen.
Das Bestreben, die Zertifizierung offiziell von der DAkks (Deutsche Akkreditierungsstelle) anerkennen zu lassen, scheitert aktuell noch an der Möglichkeit, diese Ausbildung inhaltlich zu prüfen. Aber eine offizielle Anerkennung wird natürlich weiterhin angestrebt.
Cannabis als Medizin: “eine große Herausforderung”
Leafly.de: Frau Dahl, erklären Sie doch noch einmal den Hintergrund. Wieso gibt es überhaupt den Bedarf für solch eine Ausbildung?
Petra Dahl: Für Ärzte ergeben sich viele neue therapeutische Möglichkeiten mit Cannabisarzneimitteln. Aber vor allem ist die Arbeit mit Cannabis als Medizin eine große Herausforderung.
Anders als bei zugelassenen Fertigarzneimitteln stehen für Cannabisblüten und -extrakte, sowie für Dronabinol, keine ausgefeilten Fachinformationen oder Packungsbeilagen zur Verfügung. Diese sind für zugelassene Fertigarzneimittel obligatorisch und enthalten wichtige Informationen zu den Anwendungsgebieten, zur Dosierung, zu Darreichungsformen, zur Art der Anwendung, aber auch zu Nebenwirkungen und Gegenanzeigen.
Cannabis-Therapie: “ein sehr hoher Zeitaufwand”
Leafly.de: Und das bedeutet für Ärztinnen und Ärzte …?
Petra Dahl: Der Arzt, der Cannabis verschreiben möchte, muss sich diese Informationen aktuell noch mühsam erarbeiten – meist stehen sie noch nicht mal in Deutsch zur Verfügung. Die Bundesregierung verweist immer noch auf englischsprachige Informationen. Seine Verantwortung, sein persönliches Risiko bei der Verschreibung dieser Arzneimittel, ist sehr hoch. Die Anwendung ohne Erfahrung ist schwierig, die Erarbeitung des notwendigen Wissens mühsam.
Vor Beginn einer ersten Behandlung mit einem Cannabisarzneimittel nach § 31 Absatz 6 SGB V hat der gesetzlich versicherte Patient einen Antrag bei der zuständigen Krankenkasse auf Übernahme der Therapiekosten zu stellen. Bei dieser Antragstellung, die oft einen hohen Zeitaufwand bedeutet, ist der Patient auf die Unterstützung des Arztes angewiesen (dafür kann der Arzt 15,06 Euro abrechnen). Darüber hinaus muss der Arzt den Patienten vor Therapiebeginn über die verpflichtende Begleiterhebung (9,70 Euro) aufklären und ihm hierzu ein Informationsblatt aushändigen (2,95 Euro). Die angegebenen Summen für den zusätzlichen Aufwand kann der Arzt dann gegenüber der gesetzlichen Krankenversicherung geltend machen.
Nur etwas mehr als die Hälfte der aktuell gestellten Anträge werden von den Krankenkassen genehmigt. Das liegt nicht daran, dass die Patienten das Medikament nicht benötigen, sondern an den Schwierigkeiten bei der Antragstellung und dem hohen Aufwand den Krankenkassen Entscheidungsgrundlagen zu liefern, die eine Genehmigung möglich machen.
Für Ärzte, auch wenn sie Cannabis gerne in ihrer täglichen Arbeit einsetzen würden, ist aktuell jeder Cannabispatient ein sehr hoher Zeitaufwand. Ganz abgesehen von wiederholt auszustellenden Rezepten aufgrund von Lieferschwierigkeiten, Widersprüchen bei der Kostenübernahme, etc.
Fachlich kompetente Unterstützung: Ärzte und Apotheken nicht allein lassen
Petra Dahl: Die Zahl der Cannabis Patienten, 2018 noch bei ca. 80.000, zeigt im ersten Halbjahr 2019 schon einen Zuwachs von 53 Prozent. Das bestätigt den Bedarf an Cannabis als Medikament und damit den Bedarf an Fachleuten – eben den Sachverständigen für Cannabis-Medikation. Dieser Bedarf ist vielen Ärzten das Risiko wert, Cannabis zu verschreiben. Trotz des geringen Entgelts, trotz gerechtfertigter Ängste vor Regress und trotz der Schwierigkeiten, sich all das Fachwissen anzueignen, das sie benötigen, um Cannabis verschreiben zu können. Von der Dunkelziffer der Patienten mit Privatrezepten, der illegalen Selbstmedikation von Menschen, die unserem Gesundheitssystem nicht trauen oder in diesem keinen Platz haben, wollen wir hier gar nicht reden.
Mehrheitlich verordnen, nach unseren Erfahrungen, die niedergelassenen, sogenannten Hausärzte, Cannabis. Das sind die Ärzte, die dauerhaft nah am Patienten sind, die offensichtlich erfolgreiche Cannabis-Therapien durchführen, die durch Erfolge vor Ort ermutigt werden, dies weiterhin zu tun.
Damit Cannabis als Medizin auch von den Ärzten verschrieben werden kann, die einen solchen Zeitaufwand nicht leisten können, damit es sich in Kliniken etabliert und Apotheker nicht alleine gelassen werden, bei der Beratung der Patienten, ist fachlich kompetente Unterstützung nötig. Hier sehen wir den Bedarf für zertifizierte Sachverständige für Cannabis-Medikation.
Nächste Fortbildung Mai 2020
Leafly.de: Was sind Ihre Pläne für die Zukunft? Wie soll es mit der Ausbildung weitergehen?
Petra Dahl: Wir arbeiten an unserer nächsten Fort- und Weiterbildung im Mai 2020. Wir würden uns wünschen, eine weitere im Herbst anbieten zu können . Im Folgejahr wollen wir uns auf drei bis vier Ausbildungen steigern.
Gleichzeitig erweitern wir unsere Datenbanken mit anonymisierten Behandlungsverläufen und hoffen, bis 2022 eine solche Menge an Daten ermittelt zu haben, dass wir Cannabisblüten erhalten können. Die Gründung der Deutschen Cannabis Akademie soll diesen Prozess beschleunigen und mehr Angebote möglich machen.
Was läuft falsch beim Cannabisgesetz?
Leafly.de: Wie sehen Sie persönlich das Thema Cannabis als Medizin? Was läuft gut, was nicht? Und gibt es Ihrer Meinung nach den Bedarf, das sogenannte Cannabisgesetz anzupassen?
Petra Dahl: Ich kann hier nur meine Meinung als Bürger in dieser Gesellschaft und meine Erfahrungen als klinische Psychologin wiedergeben. Wir leiden immer wieder unter Lieferschwierigkeiten, nicht nur bei Cannabis, sondern bei vielen anderen Medikamenten auch.
Die Ärzte – von denen viele, die jetzt noch arbeiten, ihre Praxen ohne Nachfolger schließen müssen – schlagen sich gerade mit einer nicht durchdachten Digitalisierung herum. Patientendaten werden, ohne Einverständnis der Patienten, in vollem Umfang auf nicht sichere Gesundheitskarten geladen. Unser Gesundheitssystem wackelt und knirscht in seinen Grundfesten. Die Patienten sind enttäuscht über das Vorgehen des Staates. Sie fühlen sich bevormundet und abgewertet, empfinden sich nicht mehr als diejenigen, die die Therapiehoheit haben.
Die Krankenkassen lehnen Kostenübernahmen aus nichtigen Gründen ab, wie fehlenden Schmerztagebüchern, die aus schmerztherapeutischer Sicht kontraindiziert sind, dem Fehlen von mulitmodalen Schmerztherapien, die von der Kasse selbst zuvor aus Kostengründen abgelehnt wurde.
“Krankenkassen uminterpretieren das Gesetz”
Leafly.de: Gibt es Ihrer Meinung nach den Bedarf, das sogenannte Cannabisgesetz anzupassen?
Petra Dahl: Als das Schlimmste erscheint mir, das Krankenkassen ungestraft Gesetze zu ihren Gunsten uminterpretieren können. Hilde Mattheis (SPD) sagte am 19. Januar 2017 in der 212. Sitzung des Deutschen Bundestages (Anm. d. Red.: An dem Tag fand die zweite und dritte Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung betäubungsmittelrechtlicher und anderer Vorschriften statt):
„Es geht um Menschen in Ausnahmesituationen, vor allen Dingen aber um Menschen – das ist ein ganz wichtiger Punkt –, die nicht unbedingt als austherapiert gelten. In diesem Zusammenhang danke ich Ihnen, dass Sie darauf hingewiesen haben, dass wir in Bezug auf diesen Punkt im parlamentarischen Verfahren noch Nachbesserungen hinbekommen haben. Die betroffenen Menschen müssen also nicht gänzlich austherapiert sein, bevor ihnen geholfen wird. Dafür vielen Dank auch an das zuständige Ministerium.“
In derselben Sitzung sagte Ingrid Fischbach, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Gesundheit:
„Deshalb sieht der Gesetzentwurf vor, dass Patientinnen und Patienten künftig Cannabis auch in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität auf ärztliche Verschreibung in Apotheken erhalten können. Bei schwerwiegend Erkrankten sollen diese Arzneimittel von Ärztinnen und Ärzten verschrieben werden können, wenn keine alternative Therapie möglich ist oder besteht. Das bedeutet aber nicht, dass die Patientinnen und Patienten alle Therapiemöglichkeiten durchlaufen müssen, sondern die Ärztin oder der Arzt kann im Einzelfall genau hinschauen und sagen: Jetzt ist der Punkt erreicht. Wir müssen keine anderen Mittel mehr testen. – Ich glaube, das ist ein ganz wichtiger Punkt in diesem Gesetzentwurf.“
Ablehnungen erfolgen jedoch immer noch mit den Argumenten von “nicht austherapiert” und “zu wenig Evidenz”. Hier bedarf es nochmals einer deutlicheren Gesetzgebung.
Leafly.de: Liebe Frau Dahl, wir danken Ihnen sehr herzlich für dieses umfangreiche Interview und für Ihre Einschätzungen und Informationen.
Nachgefragt: Sachverständige für Cannabis-Medikation im Gespräch
Sascha Stich war der erste Absolvent der Ausbildung zum Sachverständigen für Cannabis-Medikation. Er hat sich auf die Bereiche Palliativmedizin, Krebs, Parkinson, Alzheimer und Autoimmunkrankheiten spezialisiert. Inzwischen arbeitet der Mann aus Schwarzenbach an der Saale erfolgreich für einen Apothekenverbund, bestehend aus 4 Apotheken, mehrere Seniorenheime, Unikliniken und Hospize. Er ist überzeugt von dieser Weiterbildung, die ihm ganz neue berufliche Perspektiven ermöglicht hat:
“Diese Ausbildung hat mir einen sehr gut bezahlten und erfüllenden Job als Sachverständiger und Gutachter gebracht, der natürlich aufgrund der sehr hohen Nachfrage auch kein 8 Stunden-Job ist. Darüber hinaus hat mich die Ausbildung aus meiner krankheitsbedingten und immer wiederkehrenden Arbeitslosigkeit geholt.”
„Auf das Wohl der Patienten fokussieren“
Frank Matthei aus der Nähe von Bayreuth hat ebenfalls die Ausbildung bei Petra Dahl absolviert. “Ich dachte, ich habe schon viel Ahnung von Cannabis in der Medizin, aber was ich hier noch dazu gelernt und auch täglich noch lerne, ist schon eine Herausforderung, welche ich aber gerne annehme”, erzählt uns Frank, der selbst Cannabispatient ist.
Die Ausbildung hat ihm viel Spaß gemacht. Sie beinhaltet aber auch viel Formales und Rechtliches, erklärt er uns. Frank möchte in jedem Fall in einem Bereich mit medizinischem Cannabis arbeiten. “Hier ist noch sehr viel Aufklärungsbedarf in alle Richtungen zu leisten.” Er freut sich darüber, sein erarbeitetes Wissen weiterzugeben und auch weiter zu verfeinern.
“Aktuell unterstütze ich den Akutschmerzdienst und Klinikärzte bei Anfragen zu medizinischem Cannabis in einem Bayreuther Krankenhaus. In meinem Bekannten- und Freundeskreis wissen fast alle von der Ausbildung und wenden sich auch vertrauensvoll an mich, wenn Fragen zu medizinischem Cannabis aufkommen. Ich helfe bei der Suche nach einem Arzt und unterstütze sie bei der Antragstellung zur Kostenübernahme. Ich spiele auch mit dem Gedanken, mich selbstständig zu machen. Dadurch könnte ich mich voll und ganz auf das Wohl der Patienten fokussieren.”
Im Mai 2020 findet die nächste Ausbildung zum zertifizierten Sachverständigen für Cannabis-Medikation in Annweiler, Rheinland-Pfalz, statt.
Kontakt und Informationen hier.
Quelle:
Zitat Peter Cremer-Schaeffer, Der Schmerz, 2019,[S.·376 und S. 800]
Quellen: