Update vom 12.09.2019 – Vollspektrumextrakt oder Blüten? Ein Blick auf den aktuellen Markt
Wir sprachen mit Pharmazeutin Melanie Dolfen von der BezirksApotheke in Berlin dazu.
Leafly.de: Frau Dolfen, welche Vollspektrumextrakte sind derzeit auf Rezept in Deutschland für Patienten verschreibungsfähig?
Melanie Dolfen: Tilray Cannabisextrakt 10/10, Tilray Cannabisextrakt 25, Pedanios Cannabisextrakt 5/1 als Set. Diese erhält die Apotheke als Set und die Extrakte werden dann von der Apotheke angefertigt.
Leafly.de: Sie stellen bei sich in der Apotheke auf Rezept Vollspektrumextrakte her. Wie lange dauert der Prozess?
Melanie Dolfen: Der Extraktionsprozess dauert etwa sechs Stunden.
Leafly.de: Was muss der Arzt auf das Rezept schreiben, damit ein Patient ein solches Extrakt bei Ihnen bekommt?
Melanie Dolfen: Die Blütensorte, das Extraktionsmittel, die Dosierung und m.f. extractum (lat.: mische, es werde ein Extrakt).
Leafly.de: Ist dieses Vollspektumextrakt ebenfalls erstattungsfähig von der Krankenkasse?
Melanie Dolfen: Ja, er ist erstattungsfähig. Wer schon eine Kostenübernahme für Blüten hat, müsste noch einmal eine Kostenübernahme für Cannabis-Herstellungen beantragen.
Leafly.de: Wie schätzten Sie den Vollspektrummarkt in den nächsten Jahren ein? Viele gehen davon aus, dass wir eine ähnliche Entwicklung wie in Kanada haben werden.
Melanie Dolfen: Ich denke, die Extrakte werden weiterhin an Stellenwert gewinnen. Extrakte bieten eine sehr gute Alternative, für Patienten, die nicht rauchen möchten und für solche, die mit der Handhabung eines Verneblers Probleme haben. Wir haben auch viele Patienten, die den Extrakt für unterwegs (passt in jede Tasche) verordnet bekommen. Zuhause konsumieren sie dann Blüten. Außerdem denke ich, dass es durchaus auch noch andere Arzneiformen geben wird, um Cannabis einzunehmen.
Leafly.de: Frau Dolfen, vielen Dank für die interessanten Einblicke.
Cansativa importiert Medizinalcannabis aus Australien nach Deutschland
Bereits vor einige Tagen erreichte uns die Meldung, dass das Frankfurter Unternehmen Cansativa das erste medizinische Cannabis aus Australien nach Deutschland importieren wird. Die Testproben werden von Little Green Pharma bereitgestellt und sind bereits in Deutschland eingetroffen.
Dazu Benedikt Sons, Mitgründer von Cansativa und Co-Geschäftsführer gemeinsam mit Jakob Sons gegenüber Leafly.de: „Die kommerziell zu importierenden Produkte in dem genannten Fall werden zunächst Extrakte sein. Für uns ist das Thema Blüten vs. Vollspektrumextrakt in der Volumen-Vorplanung für die nächsten drei Jahre eines der bestimmenden Themen. Unser neuer Partner in Australien wird uns ermöglichen, die wachsenden Versorgungsengpässe auf dem deutschen Markt zu beseitigen und die steigende Nachfrage der Patientinnen und Patienten zu bedienen. Dies ist ein wichtiger Schritt zur zukünftigen Sicherstellung der medizinischen Versorgung mit Cannabis in Deutschland.“
Wir werden den Markt weiter beobachten und die neuen Extrakte vorstellen, sobald diese für deutsche Patienten verfügbar sind.
Originalartikel vom 27.12.2018 – Blüten: Sterben sie in der Cannabistherapie aus?
In Kanada ist die Menge der Verordnungen von Cannabisölen innerhalb der letzten fünf Jahre gegenüber der Menge der verordneten Blüten gestiegen. Stirbt das Rauchen und Vaporisieren von Cannabisblüten in der medizinischen Anwendung aus? Ob sich dieser Trend auch in Deutschland langfristig durchsetzen wird?
In Kanada ist Cannabis für medizinische Behandlungen seit 2001 legalisiert. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur Blüten. Sativex® wurde beispielsweise erst 2010 zugelassen. In den letzten Jahren wurden andere Darreichungsformen entwickelt, beispielsweise Cannabishaltige Öle und Extrakte. In Kanada war beobachtbar, wie sich die Verordnungen verschoben haben – von Blüten zu Ölen. Im Jahr 2017 war es dann soweit: Die Verordnungsmengen von Ölen übersteigt seitdem die der Cannabisblüten. Vom Sommer 2016 bis Herbst 2017, also in etwas mehr als einem Jahr, sind 39% mehr Öle verordnet worden. Im gleichen Zeitraum stieg die Menge an Blüten um nur 8%.
Auch in Deutschland sind seit Ende 2017 Cannabisvollspektrumextrakte auf den Markt gekommenen. Die Wachstumsraten bei den Verordnungen von getrockneten Cannabisblüten und Ölen sind bei beiden Produkten in etwa vergleichbar.
Blüten oder Öle – was wirkt besser?
Natürlich stellt sich die Frage, ob es egal ist, in welcher Form die Verabreichung von pharmazeutischem Cannabis stattfindet, oder ob es spezifische Unterschiede gibt.
Wie bereits häufiger auf Leafly.de thematisiert, gibt es durchaus Unterschiede: Das Rauchen oder Vaporisieren von Cannabisblüten führt zu einem sehr schnellen, dafür nicht so langanhaltenden Wirkeintritt.
Die orale Einnahme von Cannabis, sei es in Form von Vollspektrumextrakten, als Sprays oder Edibles, führt zu einem verzögerten Anfluten der Wirkung. Diese hält dafür aber auch über einen längeren Zeitraum an. Für unerfahrene Patienten ist die Dosierung mit einem Öl oder Spray leichter.
Daneben berichten erfahrene Ärzte und Patienten, dass die Verträglichkeit individuell verschieden ist. Manche Patienten würden Blüten besser vertragen als andere Darreichungsformen.
Entwicklung der Cannabismedikamente in Deutschland
Andere Länder, wie Kanada, blicken auf eine langjährige Verordnungspraxis und Entwicklung zurück. In Deutschland hingegen ist der Zugang für Patienten zu medizinischem Cannabis in nennenswertem Umfang erst seit 2017 möglich.
Seit der Gesetzesänderung im März 2017 ist nach Informationen des Spitzenverbandes des Bundes der Krankenkassen die Anwendung von getrockneten Cannabisblüten und von Extrakten (Ölen) stetig gestiegen.
Im Zeitraum von Januar bis Juni 2018 gab es 31.672 Verordnungen von unverarbeiteten Cannabisblüten und 24.519 Verordnungen von Cannabis-haltigen Zubereitungen. Darunter fällt Dronabinol und alle anderen Rezepturarzneimittel, die Cannabis enthalten (Extrakte, Öle). Sativex® wurde im gleichen Zeitraum 22.055 Mal verordnet, Canemes® 554 Mal und Cannabis-haltige Fertigarzneimittel ohne Pharmazentralnummer (Marinol®, Syndros®) 1.094 Mal.
Damit haben die Blüten was die Verordnungszahlen zwar noch die Nase vorn, aber der Abstand ist gering.
Geht also auch bei uns die Tendenz zu Cannabis-Vollextrakten, -ölen oder anderen Zubereitungen?
Wie schnell, ob und wann sich in Deutschland die Verschiebung von Cannabisblüten zu Cannabisölen oder -extrakten vollziehen wird, ist nicht vorhersehbar. Denn bei uns in Deutschland ist die Situation auch eine andere als in Kanada.
Während hierzulande von den Krankenkassen bei einer Kostenübernahme jedes verordnete Cannabispräparat, egal ob Blüten, Extrakte oder Cannabis-Arzneimittel wie Sativex oder Canemes, bezahlt wird, werden die Kosten für medizinisches Cannabis in Kanada nur in sehr wenigen Ausnahmefällen erstattet. Grundsätzlich übernehmen Krankenkassen die Kosten nicht.
Allerdings kann Medizinalhanf dort von einem Patienten mit Rezept direkt über einen lizensierten Hersteller bezogen werden, was günstiger ist, als der Bezug über eine Apotheke wie in Deutschland. Bezahlen muss der Patient aber in den meisten Fällen selbst. Einige Anbieter von privaten Krankenzusatzversicherungen beginnen seit kurzem damit, auch diese Kosten – teilweise – zu übernehmen. Zumindest für manche Diagnosen ist eine Kostenerstattung unter Umständen möglich.
Anders als in Deutschland können Patienten eine Erlaubnis bekommen, das Cannabis für die eigene medizinisch begründete Nutzung selbst anzubauen.
Vor- und Nachteile der Darreichungsformen
Jede Darreichungsform hat ihre Berechtigung und es wird immer Patientengruppen geben, für die eine Form besser funktioniert als eine andere. Dennoch gibt es grundsätzliche Überlegungen zu den Darreichungsformen.
Nicht erst in der aktuellen Praxisleitlinie der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin wird immer wieder betont, dass das Rauchen, aber auch das Vaporisieren, von Cannabisblüten einige Nachteile hat.
So kann die Wirkstoffkonzentration aufgrund der Zubereitungsart, der verwendeten Menge, aber auch durch die Schwankungsbreite der Wirkstoffkonzentrationen in den Pflanzenteilen mitunter von Einnahme zu Einnahme stark unterschiedlich sein.
Von ärztlicher Seite gibt es natürlich keine Empfehlung für das Rauchen. Denn dies kann die Lunge schädigen. Doch birgt das Rauchen auch noch erhöhte Risiken für Veränderungen an den Gefäßen und des Blutflusses, so dass das Risiko für einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erhöht sein kann.
Die orale Einnahme birgt daher einige Vorteile: Durch die Standardisierung der Konzentration ist eine exakte Dosierung leicht möglich. Somit ist der Wirkspiegel im Körper auf einfachere Weise ohne größere Schwankungen konstant haltbar. Zudem – und das ist ein sehr wichtiger Aspekt – ist die Bioverfügbarkeit bei der oralen Einnahme deutlich höher als beim Rauchen.
Beim Rauchen werden nur rund 30 Prozent der enthaltenen Cannbinoide vom Körper aufgenommen werden. Beim Vaporisieren steigt der Wert auf durchschnittlich etwa 60 Prozent. Das bedeutet, dass bei beiden inhalativen Einnahmearten ein großer Anteil der Cannabinoide ungenutzt bleibt.
Bei der oralen Einnahme von Extrakten oder Ölen steigt die Bioverfügbarkeit deutlich an. Zuletzt führen einige Patienten an, dass die Einnahmen von Cannabis-haltigen Ölen oder Extrakten deutlich diskreter möglich ist, als das Rauchen.
Warum unterschiedliche Darreichungsformen?
Die Bedürfnisse der Patienten sind sehr individuell. Auch die Anwendungsbereiche, in denen Cannabis derzeit bereits eingesetzt wird, sind vielfältig. Zukünftig könnten weitere Indikationen, Krankheiten oder Symptome hinzukommen, bei denen cannabishaltige Medikamente helfen.
Die Ergebnisse der zahlreichen klinischen Studien werden hoffentlich auch nach und nach aufzeigen, welche Anwendung für welchen Patienten am besten geeignet sein könnte. Daher ist es erfreulich und wünschenswert, unterschiedliche Darreichungsformen, Dosierungsmöglichkeiten und Produkte verfügbar zu haben, um den individuellen Bedürfnissen der Patienten entsprechen zu können. Derzeit scheinen Öle und Extrakte hierfür eine gute Möglichkeit zu sein.