Die im März 2017 vom Bundestag beschlossene Neuregelung des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) – bekannt als „Cannabis-Gesetz“ – regelt den Einsatz von Cannabis-Arzneimitteln bei schwerkranken Patientinnen und Patienten.Die Kosten für die Cannabistherapie muss die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) tragen. Nur in “begründeten Ausnahmefällen“ dürfen die Krankenkassen die Kostenübernahme ablehnen.
Bedingung für die Behandlung ist, dass nach Einschätzung des behandelnden Arztes diese Cannabis-Medikamente sich spürbar positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken oder deren Symptome lindern. Das kann zum Beispiel bei chronischen Schmerzen der Fall sein, bei chronischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose, bei schwerer Appetitlosigkeit und Übelkeit oder bei ADHS.
Der Gesetzgeber hat bewusst die Entscheidung über den Einsatz von Cannabinoiden in die Hände der Ärzteschaft gelegt: Allein der behandelnde Arzt trägt die Verantwortung und die Therapiehoheit.
Das war der Gedanke hinter dem Gesetz – in der Praxis sieht es allerdings häufig anders aus: Die Gesetzliche Krankenversicherung lehnt eine sehr hohe Zahl der Anträge auf Cannabistherapie ab. Dies führte in den letzten Monaten zu scharfer Kritik von Betroffenen, Experten und Politikern.
Hohe Ablehnungszahlen – Haltung der Krankenkassen wird seit Monaten bemängelt
Die Grünen wie auch Die Linke kritisieren die hohe Ablehnungsquote von Cannabis-Anträgen – beide Parteien stellten bereits Kleine Anfragen zu diesem Thema. Auch die Tatsache, dass jeder Antrag vom MDK geprüft wird, beanstanden sie.
Aufgrund der Schwierigkeiten bei der Genehmigung der Leistung hat das Gesundheitsministerium den GKV-Spitzenverband (Bund der Krankenkassen) um einen aktuellen Bericht zur Versorgung der Patientinnen und Patienten mit Cannabis-Medizin gebeten. Dieses Schreiben des GKV-Spitzenverbandes liegt Leafly.de vor.
Das Schreiben vom GKV-Spitzenverband können Sie hier lesen.
In der Vergangenheit gab es keine offiziellen Zahlen der Krankenkassen zur Behandlung mit Cannabis. Recherchen von Leafly.de bei den einzelnen Kassen zeigten im Sommer, dass nur gut jeder 2. Antrag genehmigt wurde. In der Halbjahresbilanz zum Cannabis-Gesetz finden Sie mehr Zahlen und Fakten.
Jetzt liegen erstmals eigene Zahlen des Bundes der Krankenkassen vor – und sie bestätigen den Trend, den wir bereits in den letzten Monaten aufgezeigt haben:
Nur gut die Hälfte der Anträge auf Behandlung mit Cannabis werden akzeptiert.
Zahlen der GKV: Krankenkassen nehmen nur 57 % der Anträge an
Auf die Frage, wie viele Anträge auf Behandlung mit Cannabis genehmigt wurden, gibt der Bund der Krankenkassen in seinem Bericht an:
Von rund 12.000 Anträgen auf Cannabis-Behandlung wurden 6.800 genehmigt – was einer Quote von ca. 57 % entspricht.
Die GKV weist darauf hin, dass Versicherte nach einer ersten Ablehnung einen zweiten, verbesserten Antrag stellen können. Da die Daten der Kassen nicht unterscheiden, ob es sich um einen ersten oder einen zweiten Antrag handelt, könnte „zumindest ein Teil der Genehmigungen als Genehmigung gleich zweier Anträge zu werten“ sein.
Dadurch würde sich die Quote der angenommenen Anträge erhöhen. Anhand der Zahlen lässt sich dies aber nicht ermitteln.
Gegenüber der Ärzte Zeitung Online verteidigt eine Sprecherin der GKV die restriktive Haltung der Kassen: Es gebe Fragen der Arzneimittelsicherheit. Anders als bei üblichen Medikamenten habe man bei Cannabis nicht vorab über Studien nachweisen müssen, dass es sicher wirke. Verlässliche Informationen zu Neben- und Wechselwirkungen mit anderen Substanzen fehlten ebenso.
Zahl der Cannabis-Patienten steigt
Die GKV geht aktuell davon aus, dass 12.000 Anträge auf Cannabis-Behandlung gestellt wurden. Selbst wenn nur 57 % dieser Anträge genehmigt werden – die Versorgung der Patientinnen und Patienten mit Cannabis steigt.
Auch wenn es ärgerlich ist, dass die Kassen sich querstellen und trotz der neuen Gesetzeslage sehr viele Anträge ablehnen, so stehen Cannabis-Arzneimittel immerhin heute wesentlich mehr Schwerkranken zur Verfügung, als es vor März 2017 der Fall war. Das ist ein positiver Trend.
Zum Vergleich: Vor März besaßen rund 1.000 Patienten eine Ausnahmegenehmigung zur Behandlung mit Cannabis.
Bei welchen Diagnosen wird Cannabis verschrieben?
Leider erheben nicht alle Krankenkassen detaillierte Informationen über ihre Cannabis-Patienten. So auch bei der Frage, bei welchen Krankheitsbildern Cannabis von Ärzten verschrieben wird. Die Daten, die zur Verfügung stehen, zeigen allerdings, dass Medizinalhanf überwiegend beim Therapiegebiet Schmerz verschrieben wird.
Bei 70 % der Betroffenen liegt die Diagnose chronischer Schmerz oder schmerzhafte Spastik bei Multipler Sklerose (MS) vor. Weitere 15 % der Anträge stammen von Patientinnen und Patienten mit Appetitlosigkeit und krankhafter Abmagerung.
- 70 % der Cannabis-Patienten leiden unter Schmerzen (inkl. schmerzhafter Spastik bei MS)
- 15 % leiden unter Inappetenz / Kachexie
Was sind die Gründe für die Ablehnung von Cannabis-Anträgen?
Die Gesetzliche Krankenversicherung gibt an, dass in der Mehrzahl der abgelehnten Fälle die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Cannabis-Behandlung nicht erfüllt sind. Bei rund 15 % der Anträge liegt es an einem unvollständigen Antrag. In diesem Fall kann aber ein neuer Antrag mit den fehlenden Informationen eingereicht werden.
Die Wahrnehmung der Krankenkassen sei, berichtet die GKV, dass zu Beginn der Neuregelung viele unvollständige und schlecht begründete Anträge bei den Versicherungen eingingen. Inzwischen gebe es diese zwar immer noch, allgemein sei die Qualität und damit die Genehmigungsquote der Anträge aber gestiegen.
So hätten die Krankenkassen im April und Mai eine besonders niedrige Genehmigungsquote beobachtet, während sich seit Juni die bewilligten Anträge auf einem stabilen Niveau bei etwas über 50 % stabilisiert hätten.
Zahl der Cannabis-Rezepte stark gestiegen – Nachfrage bei Patienten hoch
Dass der Bedarf an Cannabis-Medizin hoch ist, zeigt auch die steigende Anzahl an ausgestellten Cannabis-Rezepten – sowohl für Cannabisblüten wie auch für Cannabis-haltige Zubereitungen, Cannabishaltige Fertigarzneimittel, Sativex und Canemes.
Im Februar 2017 – also vor dem Cannabis-Gesetz – wurden 2.285 Rezepte mit Cannabisprodukten verordnet. Im Juni 2017 waren es bereits 5.534.
Packungen mit Cannabis-Medizin jeglicher Art wurden im Februar 2.364 verschrieben, im Juni 8.021.
Bemerkenswert ist hier auch der Anstieg an Verordnungen für das Cannabis-Arzneimittel Sativex: Wurden im Februar noch 2.234 Rezepte für Sativex ausgestellt, waren es im Mai bereits 3.217. Das Mundspray Sativex (Nabiximols) konnte auch bereits vor März 2017 für die Therapie der mittelschweren bis schweren Spastik bei Erwachsenen mit Multipler Sklerose (MS) verordnet werden.
Seit dem Cannabis-Gesetz ist es möglich, Sativex auch off-label – also für andere Diagnosen – zu verschreiben. Anscheinend machen Ärztinnen und Ärzte inzwischen zunehmend von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Die Daten zu den Verordnungen im Bericht der Gesetzlichen Krankenkassen beruhen auf den Kennzahlen (PZN) der Arzneimittel. Diese Angaben sind laut GKV häufig fehlerträchtig, insbesondere direkt nach der Neueinführung solcher Kennzahlen. Daher sind möglicherweise nicht alle Verordnungen von medizinischem Cannabis in den Daten der GKV erfasst.
Fazit: Die Genehmigungsquote darf nicht auf diesem Level bleiben
Die eigenen Zahlen des Spitzenverbandes der Krankenkassen bestätigen, was viele Medien in den letzten Monaten berichteten: Nur gut jeder zweite Antrag auf Behandlung mit Cannabis wird genehmigt. Diese ablehnende Haltung der gesetzlichen Kassen gegenüber Cannabis-Medizin ist ärgerlich – und untergräbt das Cannabis-Gesetz.
Der Gesetzgeber hat bewusst die Entscheidung über die Verordnung von Cannabis als Medizin in die Hände der verordnenden Ärztinnen und Ärzte gelegt. Die Krankenkassen haben „nur in begründeten Ausnahmefällen“ die Möglichkeit, die Kostenübernahme abzulehnen.
Der Versorgungsbericht der Gesetzlichen Krankenkassen zeigt aber deutlich: In der Praxis werden Cannabis-Anträge regelmäßig abgelehnt – nicht nur in Ausnahmefällen.
Dr. Michael Überall, Präsident der Deutschen Schmerzliga (DSL) e.V. und Vizepräsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS) e.V., weist in einem Gastbeitrag in der Ärzte Zeitung darauf hin, dass die Krankenkassen mit ihrer Haltung auch die im Cannabis-Gesetz verankerte wissenschaftliche Begleiterhebung behindern: Bisher ist nicht ausreichend erforscht, bei welchen Krankheiten und Symptomen Cannabis als Medizin helfen kann. Die Begleiterhebung soll wertvolle Studienergebnisse liefern, wann und in welcher Form eine Cannabis-Therapie wirkt.
„Jetzt diesen Evaluationsansatz durch ein extrem restriktives Genehmigungsverhalten formal zu boykottieren ist ein wissenschaftliches „No-Go““, so Dr. Überall.
Die Leidtragenden sind die Patientinnen und Patienten. Menschen mit schwerwiegenden Erkrankungen, für die schulmedizinische Konzepte und Standardtherapien (allein) keine hilfreiche Behandlung bieten oder zu starke Nebenwirkungen hervorrufen.
Politiker aller Bundestagsfraktionen haben betont, dass sie den Patienten durch das Cannabis-Gesetz ermöglichen wollen, eine Therapie mit Medizinalhanf zu erhalten, ohne dass sie vorher alle Standardtherapien ausprobieren müssen. Im Sinne der Patienten bleibt zu hoffen, dass die Gesetzesregelung bald so angewendet wird, wie sie gedacht war – und die Ablehnung einer Behandlung mit Cannabis durch die Krankenkassen tatsächlich endlich zum Ausnahmefall wird.
Leafly.de bleibt an diesem Thema dran und wird weiter berichten.
Quellen: