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Der Kommissar: Drogenkonsum unter Obdachlosen

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Der Kommissar

Depressionen, Drogen und die ständige Kälte: Wer nicht schon vorher krank war, wird es innerhalb kurzer Zeit bei einem Leben auf der Straße. Doch woher bekommen Obdachlose Hilfe, was brauchen sie, um ihren Alltag zu bewältigen und welche Rolle spielt dabei der Konsum von Cannabis?

Der Kommissar: Drogenkonsum unter Obdachlosen

Das Leben auf der Straße

Derzeit leben etwa 40.000 obdachlose Menschen in Berlin. Das inkludiert all diejenigen, die keinen festen Wohnsitz haben und zum Beispiel bei Freunden oder der Familie leben bzw. sich in sonstigen vorübergehenden Wohnsituationen wie Notunterkünften und ähnlichen Sozialeinrichtungen wiederfinden. Etwa 4.000 –  11.000 Menschen sind Schätzungen nach faktisch obdachlos, d.h. keinerlei Anlaufstelle für ein Dach über den Kopf haben. Die Spanne ist deshalb so groß, weil es von offizieller Seite keine umfassenden statistischen Erhebungen gibt. Allerdings wurde vor einem Monat ein neuer Gesetzesentwurf zur Einführung einer Wohnungslosenberichterstattung vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales vorgestellt, welcher ab dem Jahr 2022 Anwendung finden soll.

Hintergrund ist, dass dies zur Verbesserung der Armuts- und Reichtumsberichterstattung des Bundes für Erhebungen über Personen, die wohnungslos sind, dienen soll. Für diese Menschen sind Mangel und Gewalt Teil ihres alltäglichen Lebens, daher ist es nicht nur nachvollziehbar, sondern längst überfällig, die genaue Zahl der Betroffenen zu kennen, um Hilfsangebote entsprechend skalieren zu können.

Die Mär vom harmlosen Schnupfen

Gerade in der kalten Jahreszeit ist es fast unumgänglich, sich eine Erkältung einzuheimsen. Sollte das Unvermeidbare eingetroffen sein, heißt es im Normalfall: viel Tee trinken, warm anziehen, ausruhen und schlafen – und sich notfalls zum Auskurieren krankschreiben lassen. Wenige Tage später ist die Erkältung dann auch schon wieder verschwunden. Ganz anders gestaltet sich die Situation, wenn man  auf der Straße lebt. Denn dann kann aus einer banalen, triefenden Nase schon mal eine verschleppte Erkältung werden mit lebensbedrohlichen Ausgang: Lungen- oder gar eine Herzmuskelentzündung können die Folge sein. Doch eine medizinisch adäquate Versorgung ist auf der Straße nicht ohne weiteres möglich.

Wenn Gesundheit zur Mangelware wird

Obdachlosigkeit ist daher nicht nur ein soziales, sondern auch ein gesundheitliches Problem. Weil die Betroffenen Tag und Nacht draußen verbringen, werden sie deutlich schneller krank. Und da es keinen Ort gibt, an dem sie sich erholen können, werden sie nicht mehr gesund. Obdachlose Menschen altern schneller, sind öfter verletzt und verschleppen Infektionen. Alkohol- und Drogenkonsum sind das Resultat dieses tristen Alltags – nicht selten, um Schmerzen und Probleme zu verdrängen. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass Obdachlose zu den kränksten Menschen in unserer Gesellschaft gehören.

Häufige Erkrankungen

Häufige Erkrankungen bei Obdachlosen

 

Erschwerend kommt zu, dass nicht wenige Obdachlose bereits vor ihrem Leben auf der Straße psychisch oder physisch erkrankt waren. Doch genaue Zahlen zur medizinischen Versorgung obdachloser Menschen in Berlin gibt es kaum. Erst seit 2015 werden die Behandlungszahlen und die häufigsten Krankheiten vom Berliner Projekt „Runder Tisch – Obdachlosigkeit macht krank“ systematisch erfasst. Am häufigsten wurden dabei Hauterkrankungen festgestellt, gefolgt von psychischen sowie Suchterkrankungen.

Was macht Obdachlosigkeit mit der Psyche?

Eine weitere Studie, die sich mit der Gesundheit von Obdachlosen befasst, war die Seewolf-Studie aus München. Hier untersuchen Wissenschaftler seit 2011 die Häufigkeit, Art und das Ausmaß psychischer und körperlicher Erkrankungen an 232 Münchner Wohnungslosen. Insgesamt litten 93 Prozent der Befragten im Laufe ihres Lebens an einer vorübergehenden psychischen Störung, beispielsweise an einer Depression, Angst-, Schlaf-, Ess- oder Anpassungsstörung.

Das bedeutet: Weniger als ein Zehntel der Untersuchten war noch nie psychisch auffällig. Vielmehr litt über die Hälfte der Teilnehmer während des Untersuchungszeitraums an einer akuten Persönlichkeitsstörung. Zwei Drittel hatten schon vor der Wohnungslosigkeit eine behandlungsbedürftige Störung – im Schnitt bereits ganze sechseinhalb Jahre davor. Dies wirft die Frage auf, ob es eine Korrelation zwischen psychischen Störungen und einer späteren Obdachlosigkeit gibt. Leider ist das Thema viel zu diffizil, um im Rahmen dieser Kolumne eine fundierte Antwort geben zu können.

Warum gehen Obdachlose nicht zum Arzt?

Doch was tun Betroffene von psychischen Störungen, die auf der Straße leben? An wen können sie sich wenden? Viele Obdachlose sind nicht krankenversichert, unter anderem, da einige ihre Beiträge jahrelang nicht bezahlt haben. Um wieder versichert zu sein, müssten sie zuerst die Fehlbeträge abstottern. Andere, die krankenversichert sind, meiden Krankenhäuser, weil sie Haustiere wie Hunde haben, um die sich niemand so lange kümmern kann. Bisweilen stellen gerade diese tierischen Begleiter für Obdachlose eine wichtige Kompensation des fehlenden menschlichen Austauschs und fehlender Zuneigung dar. Die Betreuungssituation ist daher bei nicht wenigen ein wesentliches Hindernis, sich Hilfe in einer Klinik zu suchen.

Auch Angst spielt eine Rolle: vor bestimmten Eingriffen, Untersuchungen oder einfach nur vorm Bohrer des Zahnarztes. Daneben gibt es obdachlose Patientinnen und Patienten, die schlicht „nicht wartezimmerfähig“ sind. So heißt es in der Fachsprache, wenn Betroffene die Wartezeit in einer Arztpraxis nicht durchstehen. Das kann einerseits an psychischen Problemen liegen oder aber auch an Scham – weil sie schlecht riechen oder schmutzige und kaputte Kleidung tragen.

All diese Faktoren lassen Menschen, die auf der Straße leben, davor zurückschrecken, dringend notwendige medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen, die sie benötigen und die ihnen grundsätzlich zur Verfügung stünde. Die Resultate daraus sind nicht selten Ernüchterung, Frust, Perspektivlosigkeit. Dies wiederum führt einen Großteil der tausenden Obdachlosen auf Berlins Straßen zu einem der Kernpunkte dieser Kolumne: Drogen.

Welche Substanzen werden konsumiert?

Die 2015 veröffentlichte Evaluation der Nutzungsprofile von sogenannten Drogenkonsumräumen in Berlin zeigte auf, welche Drogen Obdachlose hauptsächlich konsumieren und ob daneben noch weitere Substanzen eine Rolle spielen.

Bei der Frage, welche Substanz die Konsumenten und Konsumentinnen als ihre Hauptdroge bezeichnen würden, wurde am häufigsten Heroin mit 49% genannt, gefolgt von den Substitutionsmedikamenten Methadon, L-Polamidon und Buprenorphin mit 21%. Außerdem nannten 10% der Befragten Kokain und ebenfalls 10% den Cocktail aus Heroin und Kokain als ihre Hauptdroge. Nach Tabak wurde in diesem Zusammenhang nicht explizit gefragt, weshalb kaum eine der befragten Personen die Substanz erwähnte.

Rund 5% aller Teilnehmenden antworteten mit Cannabis auf die Frage nach ihrer Hauptdroge – eine weitere Person nannte in diesem Zusammenhang Cannabis in Kombination mit Alkohol. Dies mag zunächst sehr wenig erscheinen. Ein genauerer Blick in die Studie zeichnet jedoch ein ganz anderes Bild.

Begleitsubstanzen

So wurden neben der Hauptdroge erfragt, ob und falls ja, welche Begleitsubstanzen im Alltag der obdachlosen Menschen in Berlin eine Rolle spielen. Die Mehrheit aller Befragten gab an, dass sie neben ihrer Hauptdroge weitere Substanzen konsumieren.

Diesbezüglich wurde am häufigsten Cannabis genannt. Insgesamt gaben dies 115 der rund 200 befragten Personen an, was in etwa 60% aller Beteiligten entspricht. Nach Cannanbis folgten Alkohol sowie Benzodiazepine. Lediglich sieben Personen gaben innerhalb der Studie die Auskunft, keine weiteren Substanzen neben ihrer Hauptdroge zu konsumieren. 16 Personen haben zu dieser Frage keine Angaben gemacht.

Das Konsumverhalten spiegelt bei den meisten Befragten also einen Mischkonsum wieder, bei dem Cannabis eine zentrale Rolle spielt. Was durch die Evaluation nicht zum Tragen kam, war die Differenzierung zwischen dem Konsum von Cannabis zu therapeutischen Zwecken und dem Konsum nichttherapeutischen Zweckes. Hierbei ist es allerdings auch schwer, eine klare Abgrenzung treffen zu können. Denn wie eingangs erwähnt gehören obdachlose Menschen zu den kränksten unserer Gesellschaft.

Hinzu kommt die – aus rein statistischer Perspektive – extrem hohe Wahrscheinlichkeit einer psychischen Störung, welche jedoch nur in den geringsten Fällen therapeutisch begleitet ist. Dadurch ergibt sich bei einem Großteil der Menschen ohne Obdach der Gedanke einer impliziten, den Konsumenten unbewussten, therapeutischen Nutzung:  sei es unter anderem zur bloßen nervlichen Beruhigung ihrer dauerhaften Extremsituation oder der tatsächlichen Linderung von Schmerzen.

Welche Schlüsse wir daraus ziehen

Es ist ein hartes Los, ein Leben auf der Straße zu führen. Nicht wenige Menschen zerbrechen daran und sterben als Obdachlose. Von daher erachte ich es persönlich als das Mindeste, mit ihnen achtsam und respektvoll anstelle von missachtend und herablassend umzugehen. Es kostet uns nichts, aber es erleichtert den Alltag der Betroffenen ein kleines Stück. Gerade jetzt zur Weihnachtszeit, wo wir uns aufeinander besinnen, ist es umso mehr noch angebracht, Verständnis für die Menschen aufzubringen, die es in unserer Gesellschaft mitunter am schwersten haben.

Mit diesen Worten verabschiede ich mich aus dem Jahr 2019, wünsche allen Leserinnen und Lesern von Leafly.de besinnliche Festtage und einen gesunden Start ins neue Jahr 2020!

Euer Kommissar.

Quellen:

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