Update vom 19.09.2019: Die Suche nach Medikament und Dosierung
Bereits als wir das erste Mal über Jürgen berichtet haben, suchte der Mann aus Niedersachsen die richtige Dosierung für seine Cannabis-Medikamente. Denn der Grad ist manchmal schmal, wenn Cannabispatient*innen zwar schmerzfrei, aber dennoch arbeitsfähig sein wollen.
Die Wirkung von Cannabisblüten mit hohem THC-Gehalt war Jürgen zu stark: “Die machten mich high und aufgedreht. Die neuropathischen Schmerzen haben sie zwar deutlich reduziert, aber die Nebenwirkungen in Form von Nervosität und Herzklopfen waren kontraproduktiv.”
So entscheidet sich Jürgen dazu – begleitet von seiner Ärztin – sein Medikament Bediol um rund 80 Prozent zu reduzieren. Parallel dazu nimmt er ein zehnprozentiges CBD-Öl ein. Von dem Effekt ist der Journalist begeistert:
“Die Wirkung ist trotz meiner ständigen, berufsbedingten Skepsis überraschend. Obwohl der THC-Gehalt des Öls nahezu gleich null ist, gleicht die Schmerzreduktion der neuen Kombi der frühen Wirkung, als ich viel THC zu mir genommen habe. Hinzu kommt eine deutlich emotional ausgleichende und schlaffördernde Wirkung.”
Das Gefühl in Händen und Füßen kehrt zurück
Noch mehr erleichtert Jürgen, dass das Gefühl in seine Hände und Füße zurückkehrt. Der Heilungsprozess beim Guillain-Barré-Syndrom – einer akut auftretenden neurologischen Erkrankung – dauert sehr lange. Daher ist der Cannabispatient begeistert, dass seine “Nerven in Füßen und Händen geradezu eine Zeit des Erwachens” erleben.
“Gestern war ich zum ersten Mal nach dreieinhalb Jahren wieder in der Lage, ein paar Meter zu joggen! Gehen ohne Rollator oder Stock ging schon wieder recht gut, aber jetzt kommt es mir vor, als sei ein innerer Turbo gezündet worden.”
Jürgen setzt Opioide ab
Sein Opioid (Tilidin) hat Jürgen bereits vor drei Monaten abgesetzt. Inzwischen ist er bei der Cannabissorte Argyle gelandet, die für ihn am besten passt. “Ich glaube, der Gleichklang von THC und CBD ist die Ursache für die entspannende und schmerzstillende Wirkung.”
Zurzeit nimmt Jürgen noch täglich Pregabalin ein – ein Antiepileptikum, das zur Behandlung neuropathischer Schmerzen angewendet wird. Der Journalist hofft, dass er auch dieses Medikament in absehbarer Zeit nicht mehr braucht. “Wenn ich deutlich mehr Medizinalcannabis einnehmen würde, bräuchte ich sicherlich auch kein Pregabalin mehr. Aber dann käme wieder das High ins Spiel, das ich nicht möchte.”
Auch beruflich läuft es gut für Jürgen:
“Momentan bin ich Lehrer auf Zeit. Die Evangelische Akademie Loccum hat mich als Dozent für Rhetorik und Präsentation engagiert. Ich bringe 25 angehenden Pastor*innen bei, wie sie sich vor der Kamera präsentieren können.”
Urprüngliche Patientenakte vom 26. April 2019
Jürgen Gutowski ist Journalist, Autor und Filmemacher. Für seine Stories reiste er bereits mehrfach um die Welt. Er interviewte Prominente wie Cliff Richard, Harry Belafonte und Sinnead O‘Connor, filmte Menschen, Länder und Landschaften, soziale Einrichtungen, Klöster, Kirchen und Hotels. Er war nie ernsthaft krank, erfreute sich bester Gesundheit. Im Herbst 2015 allerdings gerät sein bisheriges Leben aus den Fugen.
Ein Jahr stationäre Behandlung
Jürgen erkrankt am Guillain-Barré-Syndrom (GBS), einer seltenen, schweren Autoimmunkrankheit. Der Journalist durchlebt einen Leidensweg durch Koma, Beatmung und vier Intensivstationen. Ein Jahr muss der Schwerkranke stationär in verschiedenen Krankenhäusern behandelt werden.
Jürgen Gutowski ist von einem Tag auf den anderen vollständig gelähmt – für rund drei Monate. Die ersten sechs Wochen so stark, dass ein Lidschluss nicht mehr möglich ist. Sein Herz bleibt zwei Mal stehen. Er kann nicht mehr sprechen, nicht mal mehr atmen. Die Ärzte der Intensivstation versetzen ihn in ein anderthalb monatiges künstliches Koma – sein Körper wird nur durch Maschinen am Leben gehalten.
Guillain-Barré-Syndrom
Was ist das für eine Krankheit, die einen gesunden Menschen plötzlich trifft und so dramatisch verlaufen kann? Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist eine akut auftretende neurologische Erkrankung, bei der es zu entzündlichen Veränderungen des Nervensystems kommt. Die genaue Ursache ist nicht bekannt. GBS kann ganz unterschiedlich verlaufen und unterschiedlich lange anhalten – von Stunden oder Tagen bis hin zu Monaten.
GBS ist in unseren Breiten die häufigste Ursache für akute generalisierte Lähmungen. Durch die Intensivmedizin wurde die Mortalitätsrate auf unter fünf Prozent gebracht. Etwa ein Fünftel der Erkrankten behält allerdings Funktionsausfälle zurück. So erging es auch Jürgen Gutowski. Die akute Erkrankung hat er überstanden, aber er kämpft auch heute noch gegen die Spätfolgen.
Zurück ins Leben
“Als ich aus dem Koma erwachte, hatte ich noch keine Schmerzen”, erzählt Jürgen. Diese setzen erst nach rund drei Monaten ein, als die Nerven wieder “erwachen”. Zuerst kann der Reisejournalist aus Niedersachsen den Kopf, dann die Hände und später auch den Rumpf bewegen. Sprechen und Gehen muss er neu lernen. Die Schmerzen aber sieht er nie als Feind an, denn sie kamen erst, als er gerettet war: “Schmerzen sind für mich immer, bis heute, mit Heilung, also positiv assoziiert.”
Ein volles Jahr sitzt der ehemalige Weltenbummler im Rollstuhl. “Je beweglicher ich wurde, desto heftiger wurden meine Schmerzen in den Händen und Fingern. Die bekannten neuropathischen Schmerzen, die mit GBS üblicherweise verbunden sind”, so Jürgen. Nach rund einem Jahr werden die Schmerzen unerträglich. Das inzwischen verabreichte Pregabalin reicht nicht mehr aus. So probieren die Mediziner andere Medikamente in verschiedenen Kombinationen aus.
“Meine Schmerzen gleichen unbehandelt bis heute den Folgen schwerster Verbrennungen”, erzählt Jürgen. Tilidin kann den Schmerz einigermaßen in Schach halten, schmerzfrei ist er damit jedoch nie. Dafür hätte er die Höchstdosierung benötigt – aber die hätte ihn “betäubt bis zur Apathie”, wie Jürgen erzählt. “Ich hätte den Wiedereinstieg in meinen Beruf so nicht geschafft, ich wäre nicht alltagstauglich gewesen.”
Cannabis als Medizin gegen die Schmerzen
Durch amerikanische Internetforen sowie durch medizinische Artikel wurde Jürgen auf den Einsatz von Cannabis als Schmerztherapeutikum aufmerksam. “Meine Neugier war geweckt, auch unterstützt von meiner Neurologin, die mich bis heute behandelt. Zeitgleich fand die Legalisierung von Cannabis als Medizin im Jahr 2017 statt”, erzählt der Reisejournalist.
Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus besorgt sich Jürgen zunächst Cannabis auf dem Schwarzmarkt, um den Effekt zu testen. Die THC Dosis ist zwar viel zu hoch, dennoch ist Jürgen begeistert, dass seine Schmerzen völlig verschwunden sind. Daher wendet er sich an Dr. Kirsten Müller-Vahl von der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Die Medizinerin behandelt dort sehr erfolgreich diverse Krankheiten mit Cannabis als Medizin. Dr. Müller-Vahl leitet ihn an einen Schmerztherapeuten der MHH weiter. Nach drei Monaten Wartezeit erhält Jürgen einen Termin. Der Schmerzmediziner befragt ihn mehrere Stunden lang, dann stellt er ein Gutachten aus, in dem er eine Cannabis-Therapie empfiehlt.
Dieses Gutachten schickt der Journalist zusammen mit einer Empfehlung seiner Neurologin an seine Krankenkasse, die BKK Mobil Oil. Die Krankenkasse legt Jürgen keine Steine in den Weg: “Der Antrag wurde sofort im ersten Anlauf genehmigt, und nach drei Wochen erhielt ich die ersten 100 Gramm Bedrocan auf BtM-Rezept.”
An die richtige Dosierung muss sich Jürgen herantasten
“Die Wirkung war verblüffend, sie setzte nach wenigen Minuten ein, und ich hatte das Gefühl, dass der Wirkstoff unmittelbar in meine Hände und Finger zog und die Schmerzen nahezu vollständig beseitigte”, erzählt der Mann aus Niedersachsen begeistert. Er versucht die passende Dosierung zu finden, damit er schmerzfrei aber auch arbeitsfähig ist.
“Leider ging die Wirkung auch in meine Beine, die Füße, in den gesamten Bewegungsapparat, sodass ich Cannabis nur abends vor dem Einschlafen einnehmen konnte. Hätte ich den Stoff tagsüber angewendet, wäre ich nicht arbeitsfähig gewesen, da die für völlige Schmerzfreiheit notwendige Dosierung einfach zu hoch gewesen wäre.”
Daher informierte sich Jürgen über alternative Cannabis-Produkte, “die allesamt binnen eines halben Tages per E-Mail von meiner Krankenkasse genehmigt wurden”, erklärt uns der Schmerzpatient.
“Heute verwende ich Bediol mit weniger THC und mehr CBD, und dieses Medikament ist nun mein ständiger Begleiter und Retter. Ich bin aber dennoch auf der Suche nach einer optimalen Wirkstoffkombination, da die berauschende Wirkung des THC für mich immer noch zu hoch ist, was mich weiterhin zur Einnahme von Tilidin und Pregabalin zwingt. Derzeit warte ich auf Cannabisblüten mit niedrigem THC Anteil auf Indica- statt Sativa-Basis.”
Subjektiv unterstützt Cannabis die Heilung
Seit Sommer 2017 erhält Jürgen Cannabis auf Rezept. Der Medizinalhanf hilft gegen die Schmerzen in den Fingern und fördert den Schlaf. “Ich schlafe wieder dank Cannabis, kann meine Hände wieder gebrauchen und ich brauche weniger Opiode gegen die Schmerzen”, erzählt uns Jürgen. “Rein subjektiv haben meine Frau und ich das Gefühl, dass Cannabis die Heilung meines GBS aktiv unterstützt.”
Mittlerweile hält der Journalist auch Vorträge über seinen langen Weg der Heilung. Die Veranstaltungen sind eine Mischung aus Poesie, Lebenslust und Humor. Mehr Informationen dazu gibt es hier:
https://www.facebook.com/events/317953425708844/
Patienteninfos
Name: Jürgen Gutowski
Alter: 64
Bundesland: Niedersachsen
Krankenkasse: BKK Mobil Oil
Diagnose: Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
Medikation: Bedrocan 23%, Nollia u.a.
Fachrichtung des verschreibenden Arztes: Fachärztin für Neurologie
Das Leafly.de Patienteninterview
Leafly: Seit wann wendest Du Cannabis als Medizin an?
Jürgen: Seit Juli 2017.
Leafly: Wie bist Du denn darauf gekommen?
Jürgen: Unter anderem durch Erfahrungsberichte von MS Patienten.
Leafly: Wie war das erste Mal?
Jürgen: Der erste Joint seit meinem 16. Lebensjahr war zwar total überdosiert, aber neben dem High erlebte ich zum ersten Mal vollständige Schmerzfreiheit seit einem halben Jahr.
Leafly: In welchen Momenten wendest Du es an?
Jürgen: Täglich abends, um schmerzfrei durch die Nacht zu kommen.
Leafly: Hattest Du Schwierigkeiten mit der Krankenkasse?
Jürgen: Nein, ganz und gar nicht. Auch der Wechsel der Sorten funktioniert ganz einfach und unbürokratisch per E-Mail noch am selben Tag.
Leafly: Hast Du Angst vor einer Abhängigkeit?
Jürgen: Nein. Nach 12 Monaten täglichen Gebrauchs habe ich eine dreimonatige Cannabispause eingelegt. Ich hatte keinerlei Anzeichen von Entzug oder Abhängigkeit oder dergleichen.
Leafly: War Dein Medikament einmal nicht lieferbar? Was hast Du dann gemacht?
Jürgen: Nollia war und ist leider nicht lieferbar. Ich bin ausgewichen auf Bediol.
Leafly: Geht es Dir gut? Bist Du jetzt glücklich?
Jürgen: Diese Frage kann ich so pauschal nicht beantworten. Insgesamt geht es mir jedoch recht gut. Ich habe sogar das ganz subjektive Gefühl, dass Cannabis nicht nur die Schmerzen lindert, sondern auch aktiv die Heilung meiner geschädigten Nervenbahnen unterstützt.
Vielen Dank, Jürgen, dass Du uns von Deiner ungewöhnlichen Geschichte erzählt hast. Wir hoffen, dass Du bald ein Cannabis-Produkt findest, dass Dir noch besser hilft und wünschen Dir alles Gute für Deine Zukunft.
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