Schmerzen bis zur Bewusstlosigkeit
Der Schmerz beginnt im Unterkiefer – meistens auf der linken Seite – und fühlt sich zunächst an wie starke Zahnschmerzen. Dann zieht er in den Oberkiefer, hinter dem Ohr entlang und setzt sich am Ende hinter dem linken Auge fest, “wie ein glühender Nagel”. So beschreibt Kersten seine Cluster-Kopfschmerzattacken. “Das sind die stärksten Schmerzen, die der Körper produzieren oder aushalten kann – bis zur Bewusstlosigkeit.” Unbehandelt dauert bei ihm solch ein Anfall drei Stunden lang.
Kersten leidet seit rund 20 Jahren an Clusterkopfschmerzen. Allerdings wusste er viele Jahre gar nicht, was die Ursache für seine Schmerzen ist. Da die Attacken im Kiefer beginnen, wurden ihm mehrere Zähne gezogen. Dann stellen Ärzte die falsche Diagnose Trigeminusneuralgie, also Gesichtsschmerz. Acht Jahre lang wurde der Mann aus Nordrhein-Westfalen auf diese Erkrankung behandelt.
Durch die Recherche im Internet ist Kersten selbst auf die Krankheit Clusterkopfschmerz aufmerksam geworden. In Bonn sucht er 2009 einen Schmerzmediziner auf, der sich mit der seltenen Erkrankung auskennt. Der stellt die Diagnose Clusterkopfschmerz. Die Schmerzklinik in Kiel bestätigt die neue Diagnose. Mit 40 Jahren wird der Berufsfahrer frühberentet.
Clusterkopfschmerz – was ist das?
Clusterkopfschmerz gibt es in unterschiedlichen Formen. Meistens leiden die Betroffenen unter einseitigen, stärksten Kopfschmerzattacken im Bereich des Auges. Diese Schmerzanfälle kommen vor allem nachts. Die Schmerzen werden als bohrend, stechend oder brennend empfunden.
Die meisten Betroffenen leiden an episodischem Clusterkopfschmerz, der periodisch auftritt und gefolgt ist von einem längeren Intervall ohne Beschwerden. Bei rund einem Viertel der Betroffenen ist der Clusterkopfschmerz chronisch. Hier fehlt das Intervall ohne Attacken oder es ist kürzer als einen Monat.
Opiate, Antidepressiva und Nebenwirkungen
Bei Kersten handelte es sich zunächst auch um den episodischen Clusterkopfschmerz. Die Attacken kamen vor allem im Frühjahr und im Herbst. Dazwischen war er beschwerdefrei. 2009 allerdings chronifiziert sich die Erkrankung. Plötzlich brechen täglich Schmerzanfälle über den Mann herein – bis zu 16 Mal. Er empfindet einen Dauerkopfschmerz, der manchmal 24 Stunden lang anhält.
Kersten probiert alle Medikamente aus, die gegen Clusterkopfschmerz helfen sollen. Um mit den Schmerzen zurechtzukommen, nimmt er täglich 600 mg Tilidin, ein schmerzstillendes Opioid. Dazu kommen Antidepressiva, denn durch die immense Belastung der Krankheit und wegen einer Trennung entwickelt der Mann eine Depression.
Viele Schmerzpatienten, die wir interviewt haben, leiden zeitweise unter einer depressiven Verstimmung. Wer ständig Schmerzen empfindet, ist von der Depression nicht weit entfernt. (Mehr zu dem Thema unter Depression – unsere Patientenakten.)
Die vielen starken Medikamente, die Kersten einnehmen musste, machten ihm die Teilnahme am normalen sozialen Leben unmöglich:
“Ich fühlte mich abartig schlecht durch die Unmengen an Medikamenten. Ich konnte mich nicht mehr unterhalten, hatte Wortfindungsschwierigkeiten. So habe ich mich immer mehr zurückgezogen, lag nur noch auf dem Sofa und hatte keine Kontakte mehr”, erzählt der Schmerzpatient.
Medikamente und Neurostimulation bringen keinen Erfolg
Kersten ist austherapiert. Zahlreiche Therapien haben bei ihm keine Besserung gebracht – jedenfalls nicht langfristig. Selbst wenn ein Medikament bei ihm kurzzeitig wirkt, bedeutet das nicht, dass es auch längere Zeit hilft.
2010 wird dem Schmerzpatienten im Rahmen einer Studie der Universität Essen ein medizinisches Implantat eingesetzt. Bei der sogenannte Okzipitalen Nervenstimmulation senden Drähte, die nahe der Okzipitalnerven sitzen, eine leichte elektrische Stimulation aus. Diese Therapie soll die Anzahl der Cluster-Kopfschmerzattacken verringern, bevor sie beginnen. Bei Kersten ist die Nervenstimmulation leider nicht erfolgreich.
Cannabinoid-Behandlung: Arzt und Krankenkasse machen mit
2017 unternimmt der Schmerzpatient einen Selbstversuch mit Cannabis. “Ich hatte das Gefühl, dass es mir damit deutlich besser geht”, erzählt uns Kersten. Für ihn steht fest, dass er eine Cannabinoid-Behandlung ausprobieren will. Sein Neurologe zeigt sich offen für die Therapie und verschreibt seinem Patienten Cannabisblüten mit 8 Prozent THC und 8 Prozent CBD.
Gemeinsam schreiben sie den Antrag auf Kostenübernahme bei der Krankenkasse. Da allerdings der MdK sein Gutachten nicht innerhalb der Bearbeitungsfrist erstellt, greift die Genehmigungsfiktion. Denn hält die gesetzliche Krankenversicherung sich nicht an klar definierte Fristen, gelten die Anträge automatisch als genehmigt.
Das ist Kersten allerdings zu wenig: Er möchte, dass sein Antrag geprüft und dann die Kostenerstattung für die Cannabinoid-Behandlung genehmigt wird. Also durchlaufen seine Unterlagen den normalen Prozess und werden vom MdK geprüft. Nach wenigen Tagen erhält der Clusterkopfschmerz-Patient eine Antwort von der Kasse: Seinem Antrag wird stattgegeben, die Versicherung bezahlt die Therapie.
Generell hat Kersten in seiner langen und kostspieligen Krankengeschichte nur gute Erfahrungen mit seiner Versicherung gemacht: “Die Krankenkasse war immer super kulant und großzügig.”
Kersten kann inzwischen mit der Krankheit leben
Der Schmerzpatient hat mit Medizinalcannabis eine gute Lösung für seine gesundheitlichen Probleme gefunden. “Kein anderes Medikament hat bei mir diesen Erfolg gebracht, den Cannabis erzielt.”
Zehn Jahre lang hat Kersten Opiate eingenommen. Dann macht er einen kalten Entzug. Drei Wochen lang leidet er unter stärksten Schmerzen. “Jetzt weiß ich, wie sich ein Junkie fühlt”, erzählt er uns. THC-reiches Cannabis hilft ihm, diese Phase durchzustehen.
Ohne Opiate genießt Kersten jetzt ein ganz neues Lebensgefühl. “Früher war ich wie in Watte gepackt”, sagt er. Dank Cannabis als Medizin hat er sein Leben im Griff. Kopfschmerzattacken hat er immer noch, aber es sind weniger. Und wenn die Schmerzen angreifen, kommt Kersten damit besser klar.
Der Schmerzpatient hat weiterhin ständig ein Medikament gegen akute Anfälle dabei, dass er sich spritzen kann. “Ohne die Spritzen gehe ich niemals aus dem Haus.” Aber Kersten braucht sie nicht mehr so häufig wie früher – inzwischen vielleicht noch 12 Mal im Monat. “Das ist ein gigantischer Erfolg für mich.”
“Dank Cannabis als Medizin habe ich mich mit dem Clusterkopfschmerz arrangiert. Ich war lange in psychologischer Behandlung. Clusterkopfschmerz wird nicht umsonst im Volksmund “Selbstmord-Kopfschmerz” genannt. Das sind Schmerzen, da kommen dir schon komische Gedanken. Auch jetzt gibt es natürlich mal Zeiten, in denen es mir nicht gut geht, aber das ist nicht mehr so extrem wie früher.”
Seit einem halben Jahr hat Kersten einen Hund – aus einer spanischen Tötungsstation. Der Cannabispatient wohnt ländlich und genießt die Spaziergänge mit seinem tierischen Begleiter. “Der Hund ist sehr ängstlich, wir haben noch einen weiten Weg vor uns.” Aber inzwischen hat Kersten genug Energie, diese Aufgabe anzugehen.
Patienteninfos
Name: Kersten
Alter: 49
Wohnort: Nordrhein-Westfalen
Krankenkasse: Techniker Krankenkasse
Diagnose/n: Chronischer Clusterkopfschmerzen
Medikation: Cannabisblüten mit 8 % THC und 8 % CBD
Fachrichtung des verschreibenden Arztes: Neurologe
Das Leafly.de Patienteninterview
Leafly: Seit wann wendest Du Cannabis als Medizin an?
Kersten: Seit November 2017.
Leafly: Wie bist Du denn darauf gekommen?
Kersten: Durch einen Selbstversuch.
Leafly: Wie war das erste Mal?
Kersten: Wie ein leichter Schwips.
Leafly: In welchen Momenten wendest Du es an?
Kersten: Regelmäßig über den Tag verteilt.
Leafly: Hattest Du Schwierigkeiten mit der Krankenkasse?
Kersten: Nein.
Leafly: Hast Du Angst vor einer Abhängigkeit?
Kersten: Nein
Leafly: War Dein Medikament einmal nicht lieferbar? Was hast Du dann gemacht?
Kersten: Bislang klappt die Versorgung meist problemlos.
Leafly: Geht es Dir gut? Bist Du jetzt glücklich?
Kersten: Es geht mir deutlich besser als vorher mit Unmengen Opiaten.
Lieber Kersten, vielen Dank für dieses interessante und offene Gespräch. Wir wünschen Dir alles erdenklich Gute für die Zukunft.
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