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Leafly.de Patientenakte: Markus, 45, Bandscheibenschaden, Arthritis, Brandenburg

Gesa-2019 Autor:
Gesa Riedewald

Seit einem Motorradunfall im Jahr 1995 ist die Wirbelsäule von Markus stark geschädigt. Darüber hinaus leidet er an Arthritis in Knien, Händen und Füßen. Dank Cannabis als Medizin konnte der chronische Schmerzpatient seine starken Medikamente – wie Morphium – reduzieren. Markus bezeichnet Cannabis als seinen “rettenden Anker”. Nach 24 Jahren hat der Frührentner sein Ziel erreicht und erhält Cannabinoide auf Rezept.

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Motorradunfall mit 24: ein Moment verändert alles

An einem Morgen im Sommer 1995 will Markus mit dem Motorrad zur Arbeit fahren. Es regnet in Strömen an diesem Freitag und der Verkehr in Berlin Reinickendorf staut sich. Ein Auto wendet, um auf dem Seitenstreifen zu parken – und übersieht Markus auf seinem Moped. Der 24-Jährige macht eine Vollbremsung und prallt frontal gegen einen stehenden Wagen. Dabei wird sein Becken am Schambein gesprengt und das Iliosakralgelenk (ISG), auch Kreuzbein-Darmbein-Gelenk genannt, gelockert. Dieses Gelenk verbindet die untere Wirbelsäule mit dem Becken. Schon minimale Verschiebungen des Iliosakralgelenks können zu Schmerzen führen.

Seitdem ist Markus Wirbelsäule stark geschädigt – in der Halswirbelsäule hat er inzwischen mehrere Bandscheibenvorfälle erlitten. Nach dem Unfall kämpft sich der junge Mann mehr als zwei Jahre zurück in das Alltagsleben. Seinen erlernten Beruf kann er allerdings nicht mehr ausüben – mit 22 Jahren ist Markus zu 60 Prozent schwerbehindert, inklusive einer Gehbehinderung.

Seine Wirbelsäule ist in ihrer Funktion stark eingeschränkt und Markus leidet an außergewöhnlichen Schmerzen. Durch die Fraktur des Beckenrings treten neurologische Symptome sowie andere Beschwerden auf.

Neben den Unfallverletzungen diagnostizieren die Ärzte bei Markus eine Psoriasisarthritis – eine durch seine Psoriasis (Schuppenflechte) hervorgerufene entzündliche Gelenkerkrankung. Außerdem leidet er an einer depressiven Neurose, psychosomatischen Störungen und diversen weiteren Erkrankungen.

Im Laufe der Jahre häufen sich die medizinischen Befunde: Arthritis mutilans – eine Arthritisform, welche zu Verkrüppelungen an Händen und Füßen führen kann – und eine entzündliche Myopathie. Außerdem eine Depression, das Reizdarmsyndrom und vieles mehr. 2005 erhält Markus eine Bandscheibenprothese – seine Schwerbehinderung steigt auf 80 Prozent inklusive Gehbehinderung.

Selbstmedikation: Cannabis gegen die Schmerzen

Bereits im Krankenhaus nach dem Motorradunfall erfährt Markus zum ersten Mal den schmerzlindernden Effekt von Cannabis – allerdings nicht durch die Mediziner:

“Bei einem Krankenbesuch bekam ich statt Blumen einen Joint mitgebracht, mit dem Hinweis, dass mir das vielleicht ein wenig helfen könnte. Ich hatte nichts zu verlieren, kannte die Wirkung und es wurde ein „entspannter“ Krankenbesuch. Natürlich war es eine andere Wirkung als ich sie heute erfahre, aber ich spürte, dass es mir Linderung verschaffte und schlief so gut wie lange nicht.”

Nach dieser positiven Erfahrung beginnt Markus, sich näher mit dem Thema Cannabis zu Therapiezwecken zu beschäftigen. Das Internet steckt 1995 allerdings noch in den Anfängen und so stößt Markus auf die damals zu Verfügung stehende Literatur von Dr. Franjo Grotenhermen. “Ein Meilenstein in meiner Gesundheitsgeschichte, wie sich später noch herausstellen sollte”, erzählt der Brandenburger.

Bereits 1995 beginnt Markus mit der Selbstmedikation. Zunächst sporadisch, dann regelmäßig. 2005 beginnt der Schmerzpatient die dauerhafte Selbstmedikation mit Cannabis unter Beobachtung seines Hausarztes, einer Neurologin und einem Psychologen. Von den Ärzten erhält Markus gegen seine starken Schmerzen Morphium und einen Mix aus weiteren Medikamenten. Diese Arzneimittel möchte er reduzieren.

Lesen Sie hier mehr zu Erkrankungen aus dem rheumatischen Formenkreis und Medizinalcannabis.

Markus kämpft für die Kostenübernahme

2018 bekommt Markus von seinem Schmerztherapeuten zunächst ein Privatrezept für Medizinalhanf. Er beantragt aber auch die Kostenübernahme bei seiner Krankenkasse, der Barmer. Für die Krankenkasse hat Markus viel Lob übrig: “Die Mitarbeiter waren alle nett und freundlich. Für beide Sachbearbeiterinnen war es eine Premiere und sie waren pro Cannabinoide eingestellt. Die Fachabteilung reagierte ebenfalls schnell und klar, mein Antrag war komplett und lückenlos. Auch die telefonische Betreuung bei meiner Nachfrage am Stichtag war vorbildlich.”

Dennoch erhält Markus nicht die beantragten Cannabisblüten, denn der MDK Brandenburg verweigert diese und genehmigt nur den Tilray Extrakt THC 25. Der Schmerzpatient benötigt aber neben dem Cannabisextrakt von Tilray auch Cannabisblüten, um Schmerzspitzen abzufangen.

Verglichen mit der Inhalation von Cannabinoiden, bringt die orale Aufnahme von THC eine deutlich langsamere Anflutung mit sich. Der Wirkstoff ist über einen längeren Zeitraum auf einem niedrigeren Niveau im Körper vorhanden und hat einen lang anhaltenden Effekt. Bei der Inhalation dagegen erhält der Körper rasch eine hohe Menge THC.

“Wir haben die persönliche Schiene gewählt und ich wurde in der Geschäftsstelle meiner Krankenkasse vorstellig. Bei einem Telefonat mit der Fachabteilung einigten wir uns auf eine ausführliche Begründung, wieso auch die Cannabisblüten für mich therapeutisch nötig sind. Letztendlich habe ich es ohne weitere ärztliche Stellungnahme erreicht. Vier Seiten Begründung, Schmerztagebuch, Medikationstagebuch plus einer mehrseitigen Dokumentation waren dann doch ausreichend als Begründung.”

Seit März 2019 ist es nun soweit: Markus erhält neben dem Tilray Extrakt THC 25 auch Cannabisblüten auf Rezept. Allerdings hat auch er bereits Erfahrungen mit Lieferengpässen machen müssen. Sein Arzt prüft mittlerweile die Verfügbarkeit der Cannabissorten online bei der Apotheke, um Probleme zu vermeiden.

“Cannabis als Medizin ist für mich Lebensqualität”

Trotz seiner vielen Erkrankungen und Leiden ist Markus zufrieden mit seinem Leben. Seit elf Jahren ist er “glücklicher Vollzeitpapa und EU Rentner”. Er lebt mit seiner Familie in einem kleinen Haus mit Garten. “Die Rahmenbedingungen für einen Schmerzpatienten, unterhalb der Armutsgrenze, könnten schlechter sein”, so Markus.

Der Familienvater hofft, seine rheumatische Medikation weiter reduzieren zu können. Danach möchte er noch 10 mg Morphin absetzen. “Da geht noch was, denke ich.” Die  konstante Versorgung mit Cannabis als Medizin, die Verwendung eines Vaporisators sowie die Forschung lassen den Schmerzpatienten hoffen, dass er “zukünftig noch weniger Chemie” benötigt.

“Heute ist Cannabis auf Rezept für mich Lebensqualität. Selbst in schlimmsten Phasen ermöglicht es mir ein selbstbestimmtes Familienleben in Würde.”

 

Patienteninfos

Name: Markus

Alter: 45 Jahre

Bundesland: Brandenburg

Krankenkasse: Barmer GEK

Diagnose: Bandscheibenschaden, Arthritis psoriatica

Medikation: Tilray Extrakt THC 25 / Cannabisblüten 2 Gramm pro Tag / Morphium u.a.

Fachrichtung des verschreibenden Arztes: Hausarzt / Internist, Schmerztherapeut / Orthopäde

 

Das Leafly.de Patienteninterview

Leafly: Seit wann wendest Du Cannabis als Medizin an?

Markus: 1995, mit 22 Jahren, habe ich mit der gelegentlichen Selbstmedikation begonnen. Seit 2000 benutze ich Cannabis regelmäßig zur Selbstmedikation und ab 2005 dauerhaft unter der Beobachtung mehrerer Ärzte. 2018 habe ich dann begonnen, Medizinalcannabis auf Privatrezept zu beziehen und im März 2019 hat die Krankenkasse mir die Kostenübernahme meiner Cannabis-Medizin zugesagt – der Cannabis-Tropfen wie auch der Cannabisblüten.

Leafly: Wie bist Du denn darauf gekommen?

Markus: Nach ersten pubertären Experimenten Ende der 80er Jahre kam für mich, als Sohn eines Polizeikommissars, Cannabis nicht als Konsumdroge in Frage. Es war „nicht meins“. Nach meinem Motorradunfall bekam ich bei einem Krankenhausbesuch einen Joint mitgebracht. Ich spürte, dass es mir Linderung verschaffte. Angespornt von dieser positiven Erfahrung begann ich, mich näher mit dem Thema zu beschäftigen.

Leafly: Wie war das erste Mal?

Markus: In der Pubertät war der erste Test „nicht meins“, vom Eindruck her als Jugendlicher nicht kontrollierbar. Beim Krankenbesuch 1995 ergab sich eine neue Erfahrung vor einem anderen Hintergrund – eine andere Wirkungsweise. Der positive Effekt war deutlich. Als Schmerzpatient auf 180 mg Morphium und Medikamenten-Cocktail war es der rettende Anker, eine Art Lebensretter.

Leafly: In welchen Momenten wendest Du es an?

Markus: Den ganzen Tag über, nach Bedarf – je nachdem, wie mein Alltag, meine Pflichtaufgaben und meine Schmerzen es erfordern. Ich nehme Morphin morgens und abends als Retardmedikation. Ich dosiere die Tilray 25 Tropfen dreimal täglich. Cannabisblüten wende ich nach Zeitplan an und zusätzlich im Tagesverlauf um Schmerzspitzen zu bekämpfen. Ich nutze Cannabinoide um Krämpfen entgegenzuwirken, zur Appetitsteigerung, gegen die Depression sowie andere Symptome. Ich bin damit leistungsfähiger, es reduziert die Übelkeit und hilft, die Muskeln zu entspannen. Außerdem wirkt es gegen meine Schlafstörungen.

Leafly: Hattest Du Schwierigkeiten mit der Krankenkasse?

Markus: Mit der Krankenkasse nicht wirklich. Leider hatte der MDK Brandenburg Cannabisblüten verweigert und nur Tilray 25 Extrakt genehmigt. Am Ende hat es über die persönliche Schiene aber doch geklappt. Mein Fazit: Die Kasse war eigentlich super, die Meinung des MDK Lobbyismus, die Apotheken ahnungslos und die Arztsuche sehr problematisch.

Leafly: Hast Du Angst vor einer Abhängigkeit?

Markus: Das fragt ihr einen Patienten mit 14 Jahre Morphium Erfahrung, der 100 mg Morphin, 100 mg Amitriptylin, 40 mg Citralopram, Tramal, Oxycodon und anderen chemischen Dreck entwöhnt hat? Nein, habe ich nicht!

Leafly: War Dein Medikament einmal nicht lieferbar? Was hast Du dann gemacht?

Markus: Es ist regelmäßig nicht lieferbar: Diverse Cannabissorten wie Red No.4 und andere Blüten aus Kanada sind seit der Legalisierung dort schwer in Deutschland erhältlich. Bedrocan ist fast immer verfügbar, auch wenn es für die normale Apotheke drei bis vier Werktage dauert. Bei Lieferproblemen habe ich mir Cannabis auf anderen Wegen besorgt, mich mit der Apotheke auf Expedition begeben oder mir ein neues Cannabis-Rezept ausstellen lassen. Meine Nähe zu Berlin war und ist da wohl von Vorteil.

Ich habe bereits fünf Protestmails über das Selbsthilfenetzwerk Cannabis Medizin SCM geschrieben und verfolge zwei- bis dreimal wöchentlich die Online-Bestände der spezialisierten Apotheken.

Leafly: Geht es Dir gut? Bist Du jetzt glücklich?

Markus: Mit meinen alten und neuen Diagnosen und Symptomen geht es mir natürlich nicht ganz so gut – aber dennoch bin ich glücklich. Ich bin im Reinen mit mir, das habe ich vom Leben und den Krankheiten gelernt. Ich habe nach 24 Jahren Kampf das Ziel erreicht – davon hätte ich nie zu träumen gewagt.

 

Lieber Markus, vielen Dank, dass Du uns Deine Geschichte erzählt hast. Wir wünschen Dir und Deiner Familie alles Gute für die Zukunft.

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