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Leafly.de Patientenakte: Michelle, 51, HMSN, Bayern

Gesa-2019 Autor:
Gesa Riedewald

Michelle lebt mit der seltenen Erbkrankheit HMSN Typ 1. Diese Form der Neuropathie führt dazu, dass die Muskeln an Füßen und Beinen immer schwächer werden. Bei Michelle sind auch die Hände betroffen. Inzwischen sitzt die 51-Jährige im Rollstuhl. Durch Medizinalcannabis konnte Michelle ihre Opiate absetzen. Die Therapie mit cannabinoidhaltigen Arzneimitteln lindert die Schmerzen und die Krämpfe, ohne die starken Nebenwirkungen des Opioid-Pflasters. So geht es ihr heute “geistig so gut wie schon lange nicht mehr”, erzählt die Schmerzpatientin.

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“Ich habe meinen Frieden gefunden”

Michelle versucht, ihr Schicksal anzunehmen. Die letzten 10 Jahre bezeichnet sie selbst als eine große Herausforderung. “Aber mittlerweile habe ich meinen Frieden gefunden.” Die 51-Jährige leidet an HMSN Typ 1, einem progressiven vererbbaren Gendefekt. Die Erkrankung wird auch Charcot-Marie-Tooth-Syndrom (CMT) genannt.

“Als Kind bin ich ständig umgeknickt. Die Ärzte sprachen von einer Bindegewebsschwäche – es wäre ausgeleiert. Daher wurden meine Beine mit einem Gipsverband ruhig gestellt”, erzählt die Frau aus Bayern.

Über die Jahre entwickelt Michelle Krallenzehen, die das Stehen immer schmerzhafter machen. Eine Wiederherstellungsoperation in jungen Jahren hilft nur temporär. Michelle erhält Einlagen in den Schuhen. Zu diesem Zeitpunkt weiß sie noch nicht, an welcher Krankheit sie leidet.

HMSN / Neurale Muskelatrophie

HMSN steht für hereditäre motorisch-sensible Neuropathie. Die seltene, unheilbare Erkrankung betrifft die Bewegungs- und Empfindungsnerven. Die Muskeln an Füßen und Unterschenkeln werden bei dieser Form der Neuropathie immer schwächer. Die Erkrankten bilden häufig Fehlstellungen am Skelett aus, wie Hohlfüße und Krallenzehen. Bei manchen Patienten sind auch die Hände und Unterarme betroffen. Die Nerven der Betroffenen degenerieren langsam und fortschreitend. In Deutschland leben rund 30.000 Menschen mit dieser Krankheit.

Spasmen und Schmerzattacken

2004 bekommt Michelle Probleme mit den Daumengelenken: das Karpaltunnelsyndrom. Sie wird operiert, aber dass sie an HMSN leidet, weiß zu diesem Zeitpunkt noch niemand. Darüber hinaus stolpert und fällt sie häufig. Zum Beispiel, wenn sie mit dem Hund spazieren geht.

Michelle will Klarheit und erhält von ihrer Hausärztin eine Überweisung ins gentechnische Labor. Nach einigen Wochen steht dann die Diagnose fest: hereditäre motorisch-sensible Neuropathie, HMSN Typ 1. Zu diesem Zeitpunkt leidet Michelle bereits an Spasmen und Schmerzattacken im ganzen Körper.

Am Ende wartet der Rollstuhl

Damals arbeitet Michelle als Mediengestalterin und will den Beruf gerne auch in Zukunft ausüben. Die Krankheit schreitet aber immer weiter voran. Zuerst braucht die Patientin Gehhilfen, dann kommt der Rollator und am Ende ist Michelle auf den Rollstuhl angewiesen. Irgendwann war die Muskulatur so stark überlastet, dann sie nicht mehr laufen kann.

Michelle unterzieht sich im Laufe der Jahre etlichen Erhaltungsoperationen: an den Händen, den Schultern, den Beinen, Knien und den Füßen. Durch eine umfangreiche Operation wurden ihre Füße korrigiert – der Nervenschmerz blieb. Ihre Beine degenerieren zu den für diese Erkrankung typischen “Storchenbeinen”.

Als ihr Zustand sich immer mehr verschlechtert, fällt sie in eine Depression. Sie fühlt sich allein, ist mitunter verzweifelt. Sie durchläuft sämtliche Schmerztherapien und wendet Opiate gegen die Schmerzen an.

Strafanzeige und Ausnahmegenehmigung

Die Frau aus Bayern stellt schon früh fest, dass Cannabis ihr dabei hilft, die Schmerzen zu lindern. 2008 gerät sie in eine Fahrzeugkontrolle und in ihrem Blut wird THC nachgewiesen. Es folgen Anzeige und Gerichtsverhandlung. Michelle wird verurteilt.

“Schon während des Strafverfahrens begann ich dann aktiv eine Ausnahmegenehmigung beim BfArM zu beantragen, damit ich Cannabis als Medizin nutzen durfte.” Dieser Erlaubnis erhält sie relativ schnell und problemlos 2009.

Dank dieser Ausnahmegenehmigung kann Michelle offiziell Medizinalcannabis in der Apotheke kaufen. Die Preise waren aber damals hoch – wenn auch nicht so hoch wie heute. Aber die Cannabispatientin musste ihr Medikament selbst bezahlen.

“Da ich mir Cannabis aus der Apotheke nicht immer leisten konnte, musste ich zusätzlich ein Opioid-Pflaster benutzen. Dessen Nebenwirkung waren teilweise erheblich: Übelkeit, Appetitlosigkeit und oft starke Benommenheit. Mein Lebensmut war irgendwie gebrochen, denn ich wurde auf immer höhere Dosen eingestellt. Nur so konnte der Schmerz gedämpft werden. Aber die Nebenwirkungen waren einfach unerträglich.”

Michelle kämpft für die Kostenübernahme

Noch vor der Legalisierung von Cannabis als Medizin beantragt Michelle bei ihrer Krankenkasse die Kostenübernahme für ihre Medizin. Sie geht fast bis vor das Sozialgericht, als sie 2017 hört, dass Cannabis als Medizin als Therapieoption zugelassen wird. Im März 2017 erhält sie die Kostenübernahme ihrer Cannabinoid-Behandlung.

Die Cannabispatientin baut langsam ihr Opioid-Pflaster ab. Mithilfe von Medizinalcannabis kann sie darauf verzichten.

“In Anbetracht der Schwere meiner Krankheit muss ich sagen, dass es das Beste war, was mir passieren konnte. Seitdem ich das Opioid-Pflaster abgesetzt habe, und mit Cannabis ersetzt habe, geht es mir geistig sehr viel besser. Ich nehme wieder am Leben teil. Die Nebenwirkungen wie Erbrechen und Übelkeit sind so gut wie verschwunden. Und das Beste ist, dass ich auch an Gewicht zugelegt habe. Heute kann ich rückblickend sagen, es war eine sehr schwere Zeit, aber es hat sich für mich persönlich sehr gelohnt.”

Darüber hinaus hilft Michelle eine Psychotherapie, mit der Situation umzugehen und die Krankheit zu akzeptieren.

Patienteninfos

Name: Michelle

Alter: 51

Wohnort: Bayern

Krankenkasse: BKK Mobil Oil

Diagnose/n: HMSN Typ1

Medikation: Medizinalcannabisblüten

Fachrichtung des verschreibenden Arztes: Orthopäde

Das Leafly.de Patienteninterview

Leafly: Seit wann wendest Du Cannabis als Medizin an?

Michelle: Seit 2013

Leafly: Wie bist Du denn darauf gekommen?

Michelle: Ich habe schon in jungen Jahren zum Entspannen Cannabis genutzt und wusste daher um die Wirkung der Medizin.

Leafly: Wie war das erste Mal?

Michelle: Berauschend, losgelöst, befreit und mitunter sehr heiter.

Leafly: In welchen Momenten wendest Du es an?

Michelle: In Schmerz-Momenten, zum Entspannen der Muskeln und um den Appetit anzuregen. Ich bin durch die Krankheit und die Medikamente abgemagert. Durch Cannabis als Medizin konnte ich wieder etwas zunehmen.

Leafly: Hattest Du Schwierigkeiten mit der Krankenkasse?

Michelle: Nein. Da ich mich schon vor der Freigabe an die BKK gewendet hatte, war es dann kein Problem mehr.

Leafly: Hast Du Angst vor einer Abhängigkeit?

Michelle: Nein, es hat mir geholfen, vom Opiat-Pflaster wegzukommen.

Leafly: War Dein Medikament einmal nicht lieferbar? Was hast Du dann gemacht?

Michelle: Ja, gerade am Anfang war es immer wieder schwierig. Und wenn Cannabis in der Apotheke nicht zu haben ist, rutscht man dadurch leicht wieder in die illegale Schiene.

Leafly: Geht es Dir gut? Bist Du jetzt glücklich?

Michelle: Geistig ging es mir schon lange nicht mehr so gut wie jetzt. Ich male gerne – das beruhigt die Seele und bringt Spaß. Ich war trotz meiner Behinderung schon vorher glücklich, nun bin ich entspannt glücklich.

Liebe Michelle, vielen Dank für das Gespräch. Wir wünschen Dir alles Gute für Deine Zukunft.

 

Fotoquelle: Andrea Sömmer

 

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