In 2019 haben wir mit vielen neuen Cannabispatient*innen Interviews geführt. Diese Menschen haben uns ihre ganz unterschiedlichen Krankengeschichten erzählt und von ihren persönlichen Erfahrungen mit Cannabis als Medizin berichtet. Darüber hinaus haben wir mit den Menschen, deren Geschichten wir bereits früher erzählt haben, Kontakt gehalten und nachgefragt, was sich in ihrem Leben getan hat. Diese neuen Entwicklungen haben wir teilweise als Updates ihrer Patientenakte veröffentlicht.
Fibromyalgie – wenn der Schmerz das Leben bestimmt
Unter den in diesem Jahr interviewten Patientinnen und Patienten waren viele, die Medizinalcannabis gegen das Fibromyalgie-Syndrom einsetzen. Die Betroffenen leiden oft an stärksten Schmerzen – dennoch wird ihre Erkrankung häufig abgetan und nicht ernst genommen. Dabei können viele Menschen mit dem Schmerzsyndrom ihren Alltag kaum noch meistern. Der Schmerz bestimmt das Leben und dem Beruf nachzugehen, ist oft schwierig.
Eine Fibromyalgie-Patientin, mit der wir dieses Jahr ein ausführliches Interview geführt haben, ist Susanne. Die Mutter von zwei Kindern hat über Jahre Opiate eingenommen. An der Uniklinik Heidelberg hat sie eine Schmerztherapie gemacht. Auf viele Medikamente reagierte sie irgendwann allergisch. Darüber hinaus wirkten selbst starke Schmerzmittel wie Morphin bei Susanne nicht ausreichend – trotz hoher Dosen. In Cannabis als Medizin hat sie eine wirksame Alternative gefunden.
Susanne könnte eigentlich eine glückliche Cannabispatientin sein, denn sie hat das, wofür viele andere kämpfen: eine Kostenübernahme ihrer Krankenkasse. Dennoch bekommt sie kein Medizinalcannabis – jedenfalls nicht in ausreichender Menge. Ihr Arzt verschreibt der Frau aus Baden-Würtemberg nur einen Bruchteil der Menge an Cannabisblüten, die der MDK genehmigt hat. Der Grund ist seine Sorge vor Regress. Die Dosis, sie Susanne erhält, reicht jedoch für einen Erwachsenen mit chronischem Schmerzsyndrom nicht aus. So ist sie gezwungen, weitere Schmerzmedikamente einzunehmen, die sie aber nicht verträgt.
Darüber hinaus hat Susanne – wie viele andere Patientinnen und Patienten, mit denen wir gesprochen haben – Erfahrungen damit gemacht, dass andere Menschen unangenehm reagieren, wenn sie das Thema Cannabis als Medizin anspricht. Aus Angst vor diesem Stigma, das dem Medikament noch immer anhaftet, möchte sie auch ihr Bild nicht zeigen und ihren Namen nicht veröffentlicht sehen. Susanne heißt im wirklichen Leben anders.
Hier finden Sie die Zusammenfassung aller unserer Fibromyalgie-Krankengeschichten.
ADHS bei Erwachsenen
Nach Fibromyalgie sind die häufigsten Diagnosen unserer Cannabispatient*innen ADHS, Migräne bzw. Clusterkopfschmerz sowie Erkrankungen an der Wirbelsäule.
ADHS ist die Abkürzung für das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom. Die Betroffenen haben nur wenig Ausdauer bei kognitiven Beschäftigungen. Sie wirken sprunghaft, unkonzentriert und desorganisiert. Neben der Unaufmerksamkeit und der Hyperaktivität gehört eine ausgeprägte Impulsivität zu den typischen Symptomen.
Bei dem meisten Betroffenen reduzieren sich die ADHS-Symptome, wenn sie älter werden. Vor allem die Hyperaktivität nimmt ab. Früher gingen Mediziner davon aus, dass ADHS bei Erwachsenen nicht existiere. Heute ist jedoch belegt, dass in einem Drittel aller Fälle die Störung bis ins Erwachsenenalter fortbesteht.
Alle ADHS-Patienten, über die wir dieses Jahr berichtet haben, kämpfen damit, dass die Krankenkasse die Kostenübernahme verweigert. Die Therapie mit Cannabinoiden ist bei ADHS umstritten. Die Betroffenen, die uns ihre Geschichten erzählt haben, berichten jedoch von positiven Effekten.
Patrick geht es dank Cannabis als Medizin körperlich wie seelisch deutlich besser. So spricht sich auch der behandelnde Arzt in der psychiatrischen Ambulanz, in der Patrick Patient war, für eine Cannabinoid-Therapie aus. In einer Stellungnahme zu Patricks Fall schreibt er:
“Wir erachten die Medikation mittels Cannabinoiden aktuell als beste Variante zur Behandlung des Patienten und befürworten eine Kostenübernahme durch die Krankenkasse nachdrücklich.”
Patricks Krankenkasse jedoch lehnt den Antrag auf Kostenerstattung ab.
Migräne und Clusterkopfschmerz
Wir haben auch mit einigen Kopfschmerz-Patienten gesprochen, denen die Cannabinoid-Therapie Linderung verschafft. Komplett frei von Schmerzen ist deshalb keiner der Betroffenen – aber die Schmerzattacken sind seltener und fallen schwächer aus als vor der Behandlung.
Kersten leidet seit 20 Jahren unter Clusterkopfschmerz. Inzwischen ist die Erkrankung chronisch geworden. Die schweren Schmerzattacken haben ihn buchstäblich umgehauen. “Das sind die stärksten Schmerzen, die der Körper produzieren oder aushalten kann – bis zur Bewusstlosigkeit.” Unbehandelt dauert bei ihm solch ein Anfall 3 Stunden.
10 Jahre lang nahm der Mann aus Nordrhein-Westfalen Opiate. Cannabis als Medizin hat mehr erreicht, als alle Medikamente davor: Kersten leidet jetzt deutlich seltener unter Kopfschmerzen. Darüber hinaus kommt er mit seiner Erkrankung besser zurecht und kann sein Leben wieder gestalten.
Unsere Cannabispatient*innen 2019 – Auswertung
Von den 23 Cannabispatient*innen, die wir in 2019 interviewt haben, waren 7 weiblich und 16 männlich. Das Durchschnittsalter lag bei 47,5 Jahren. Gut die Hälfte der Personen (12) besitzt eine Kostenübernahme der Krankenkasse, die andere Hälfte zahlt das Cannabis-Produkt aus der eigener Tasche.
Natürlich ist dieser Datensatz aus 2019 viel zu klein, um statistisch etwas auszusagen. Aber immerhin zeigt er eine Tendenz. Außerdem gibt er einen Eindruck darüber, welche Menschen in diesem Jahr das Bedürfnis hatten, bei uns ihre Geschichte mit anderen Betroffenen und Interessierten zu teilen.
Krankenkassen und Ärzte
Die DAK ist bei unseren Daten aus 2019 leider der traurige Spitzenreiter: Von 5 Versicherten hat nur eine einzige Person eine Kostenübernahme bekommen. Am anderen Ende steht die Techniker Krankenkasse: Hier hatten von 5 Versicherten 4 eine Kostenübernahme.
Am häufigsten erhalten unsere Patientinnen und Patienten ihr Cannabis-Rezept von einem Allgemeinmediziner bzw. Hausarzt (8). Danach folgen die Schmerzmediziner (4) und Neurologen (3).
Bundesländer
Die meisten Interviewten kommen aus Bayern und Nordrhein-Westfalen. Danach folgen Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz. Die ostdeutschen Bundesländer Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern waren dieses Jahr leider gar nicht vertreten. Wir hoffen, dass sich das in 2020 ändert. Auch das kleine Saarland sowie die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen fehlen leider.
Diagnosen
Wir haben dieses Jahr am häufigsten über Menschen mit dem Fibromyalgie-Syndrom berichtet. Danach folgen gleichauf die Diagnosen ADHS, Migräne / Clusterkopfschmerz sowie diverse Wirbelsäulenerkrankungen.
Patientenakten 2019: Zwei Drittel Männer
Von den Cannabispatientinnen und -patienten aus 2019 waren mehr als zwei Drittel männlich und etwas weniger als ein Drittel weiblich. Wir glauben nicht, dass sich daraus erkennen lässt, dass es mehr männliche Cannabispatienten gibt. Vor allem, da auch die Daten der Krankenkassen ein anderes Bild zeichnen. Vielmehr verdeutlicht diese Zahl, dass sich Frauen schwerer damit tun, mit dem Thema Cannabis als Medizin in die Öffentlichkeit zu treten und ihr Gesicht zu zeigen.
Dafür haben wir großes Verständnis. Tatsächlich ist es nicht leicht, sich zu einem Medikament zu bekennen, das bei vielen Menschen vor allem als Droge angesehen wird. Um so mehr sind wir aber den Frauen dankbar – wie Christine, Daniela und einigen mehr – die sich dennoch trauen, in die Öffentlichkeit zu treten und über Cannabis als Medizin aus ihrer Perspektive zu berichten. Denn dadurch tragen diese Frauen aktiv dazu bei, Vorurteile abzubauen. Und vielleicht werden es im nächsten Jahr auch mehr Frauen sein, die den Schritt aus der Deckung wagen.
Christine, die an einer schweren Form von Brustkrebs erkrankt ist, hat es sich zur Aufgabe gemacht, über Cannabis als Medizin zu informieren. Nicht nur in ihrem privaten Umfeld, sondern inzwischen auch als Kolumnistin bei Leafly.de. An Heiligabend haben wir ihr Patientenvideo veröffentlicht – das zweite Video in dieser Reihe. Die Filme geben den Patient*innen die Möglichkeit, über ihre Erkrankung und die ärztliche Behandlung in eigenen Worten zu berichten.
Wir danken allen Cannabispatient*innen sehr, die auf Leafly.de ihre Geschichte erzählen. Sie machen damit anderen Betroffenen Mut, nicht aufzugeben und zur Cannabis-Therapie zu stehen. Allen Patientinnen und Patienten wünschen wir nur das Beste für 2020!