Was ist Sucht?
Wenn Sie jemand auffordern würde, „Sucht“ zu definieren, was würden Sie sagen? Wenn Sie der Ansicht sind, dass es sich um eine chemisch induzierte Abhängigkeit handelt, die durch Entzugserscheinungen gekennzeichnet ist, die Sie selbst nie erlebt haben, dann sind sie wahrscheinlich der Ansicht, dass Cannabis nicht süchtig macht. Andere wiederum glauben, eine Sucht manifestiere sich psychisch und dass Cannabis genauso süchtig machen kann wie Glücksspiel, Sex oder Essen, da sie alle Belohnungsreaktionen im Hirn auslösen.
Roger Roffman, Emeritierter Professor für Soziale Arbeit an der University of Washington, hilft, eine etwas einheitlichere Definition zu finden.
„Die Wörter Sucht, Abhängigkeit und Störungen sind eine Sache, wenn Sie mit Fachleuten sprechen, und eine ganz andere, wenn Sie mit der Öffentlichkeit reden“, so Roffman. „Sucht entsteht aus einer Kombination biologischer und psychologischer Faktoren, die zu konditionierten Verhaltensmustern beitragen, die sehr schwer zu stoppen oder zu kontrollieren sind.“
Und natürlich spielt beim Begriff „Sucht“ auch die Umweltkomponente eine wichtige Rolle. Johann Hari, Autor von Chasing the Scream: The First and Last Days of the Drug War, präsentierte seine eigene Definition von Sucht – eine, die Umweltfaktoren noch vor biologische stellt:
„Menschen haben ein angeborenes Bedürfnis nach Bindung und Kontakt. Wenn wir glücklich und gesund sind, dann binden wir uns an Menschen um uns herum. Wenn wir das aber nicht können, weil wir traumatisiert, isoliert, oder vom Leben gezeichnet sind, dann binden wir uns an etwas, das uns ein Gefühl der Linderung verschafft. Der Weg aus ungesunden Bindungen heraus und hin zu gesunden Bindungen ist der Kontakt mit Menschen, mit denen man zusammen sein möchte. Sucht ist nur ein Symptom einer Kontaktkrise.“
Von dieser Warte aus betrachtet stellt sich nicht etwa die Frage, ob Cannabis süchtig macht, sondern unter welchen Umständen man cannabissüchtig werden kann.
Was ist eine „Cannabis-Missbrauchsstörung“?
In wissenschaftlichen und medizinischen Kreisen hören Sie selten den Begriff „Canabissucht“. Stattdessen hören Sie eher von der „Cannabis Use Disorder” (Cannabis-Missbrauchsstörung) und das ist auch das Krankheitsbild, das Sie im offiziellen Handbuch der psychiatrischen Diagnostik – dem DSM-5 (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen) finden.
Die in diesem Handbuch enthaltenen Definitionen und Kriterien werden in den USA für die Empfehlung von Behandlungen allgemein anerkannt – es definiert die Cannabis-Missbrauchsstörung mit Hilfe von 11 Indikatoren. Diese Marker beschreiben verschiedene Verhaltensweisen in Verbindung mit Cannabiskonsum, darunter Verlangen, Dauer des Konsums, Dosis und Auswirkungen auf das Leben. Die Anzahl der Faktoren, die bei einer Person auftreten, bestimmen den Schweregrad der Störung.
Die Genauigkeit dieser Marker ist von entscheidender Bedeutung wenn bestimmt werden soll, ob eine Behandlung notwendig ist, insbesondere dort, wo die Teilnahme an Rehabilitationsprogrammen bei Drogendelikten vorgeschrieben ist. Eine Person, die lediglich zwei Kriterien – sagen wir #4 (Starkes Verlangen, Cannabis zu konsumieren) und #10 (benötigt eine deutlich höhere Dosis, um den gewünschten Effekt zu erzielen) – erfüllt, würde mit einer leichten Cannabis-Missbrauchsstörung diagnostiziert werden.
„Wenn es ein Problem mit [den Diagnosekriterien des DSM-5] gibt, dann ist es die Überreaktion bei Vorhandensein von lediglich ein bis zwei dieser Indikatoren“, erklärt Roffman. Diese Überreaktion vermischt Fälle, in denen Hilfe tatsächlich nötig ist, mit solchen, in denen Cannabis keine oder sogar positive Auswirkungen auf eine Person hat, die den Konsum nicht beenden möchte.
„Wir müssen zwar anerkennen, dass Cannabis in Maßen und vernünftig angewendet werden kann, dass es die Lebensqualität steigern und, natürlich, auch eine heilsame Wirkung haben kann, jedoch ist es auch Tatsache, dass eine kleine Minderheit von Cannabis-Anwendern weit mehr als nur ein oder zwei dieser Kriterien aufweist“, so Roffman. „Wir müssen Verständnis für Menschen mit einer mittelschweren oder schweren Missbrauchsstörung aufbringen und wir brauchen fundierte Wissenschaft, um sie zu verstehen und um helfen zu können“, so Roffmann.
Doch es ist fast unmöglich, eine fundierte wissenschaftliche Grundlage zu Cannabis und anderen verbotenen Substanzen aufzubauen, wenn ein Land durch Prohibition jegliche Forschung zu deren positiven Wirkungen einschränkt.
Welche Verbindung besteht zwischen Legalisierung und Sucht?
Die Antwort der USA auf Drogenmissbrauch und Sucht ist Kriminalisierung. Bestrafen wir die Konsumenten und lassen wir sie leiden, indem wir sie einsperren. Schicken wir sie in zwingende stationäre Behandlung. Dadurch sind weniger Drogen auf den Straßen, die unsere Gesellschaft gefährden, und die Konsumenten lernen ihre Lektion. Richtig?
Die meisten Amerikaner wissen mittlerweile, dieser Ansatz der Drogen- und Suchtbekämpfung funktioniert nicht. Tatsächlich wurden die Dinge dadurch um ein Vielfaches schlimmer. Prohibition führt zu einem sozialen Umfeld, in dem Heilung noch schwerer wird. Sie treibt einen Keil zwischen die Betroffenen und ihre Freunde und Familien. Berufliche Chancen schwinden. Das Leben wird noch schwieriger als vorher, und selbst da brauchte man die Drogen schon, um der Realität zu entfliehen, als etwas, an das man sich binden konnte.
Neben ihrem offensichtlichen Versagen schürt diese Politik auch die negative öffentliche Meinung. Die gesetzliche Einschränkung von Forschung ist für die Verantwortlichen ein leichter Ausweg, um behaupten zu können, wir wüssten nicht genug über die Risiken einer Legalisierung und diese Einstellung wird von der Öffentlichkeit bereitwillig übernommen.
„All diese Nachrichten über Gesundheitsrisiken sind unter anhaltender Prohibition insofern verdreht, da sie wissenschaftliche Fakten oftmals offenkundig falsch auslegen“, sagt Roffman. „Bei einer Legalisierung hätten wir weit mehr Raum, um über gesundheitliche Vorteile und mögliche Risiken zu debattieren – und darüber, wie wir zu guten Entscheidungen kommen.“
Anerkennung von Risiken
Roffmans eigene Geschichte mit Cannabis ist eine unkonventionelle Mischung aus Teilnahme an staatlich finanzierten Risikostudien und eigener Fürsprache. Als Vorsitzender der NORML-Niederlassung in Washington in den 70ern Mitträger des staatlichen Gesetzes zur medizinischen Anwendung 2012 demonstriert er mit seiner Arbeit, dass die Anerkennung von Risiken eine sachliche Argumentation für die Legalisierung von Marihuana nicht zwingender Maßen unterminiert.
So wie die öffentliche Meinung manchmal problematisch in die Gegenrichtung tendiert, kann pauschales Beharren auf die Harmlosigkeit von Marihuana genauso zu Problemen führen. Ich sah mich diesem Konflikt selbst ausgesetzt und Teil einer Gemeinschaft engagierter Aktivisten und Patienten zu sein, kann sicherlich auch dazu führen, dass man so sehr für die Sache brennt, dass man selbst geblendet wird. Diese starke Gemeinschaft muss darüber sprechen, wie Cannabis unsere Leben verändert hat, aber wir dürfen dabei nicht die Tatsache aus den Augen verlieren, dass die Wirkung auf Menschen in anderen Lebensumständen sich drastisch unterscheiden kann.
Durch unsere gemeinsame Mühe und Stimme ist die Legalisierung von Cannabis zum Greifen nahe und es ist jetzt auch unsere Pflicht, nicht nur denjenigen zu helfen, die aus medizinischen Gründen auf Cannabis angewiesen sind, sondern auch jenen, die Hilfe bei der Entwöhnung oder der Eindämmung ihres Konsums brauchen, damit auch sie bessere Gegenbeispiele zu negativen Stereotypen werden können.
Als unser Gespräch sich dem Ende neigte, schloss Roffman mit der Aussage ab:
“Wir sind noch weit, weit davon entfernt, die Öffentlichkeit effektiv über die gesundheitlichen Risiken zu informieren. Es gibt eine lange Geschichte von Missbrauch, viele Menschen haben durch Mythen und Lügen eine sehr negative Einstellung gegenüber Marihuana und viele sind auch der Ansicht, dass, wenn man für eine Legalisierung eintritt, man keinesfalls auch anerkennen kann, dass es auch Risiken gibt. Damit diese Bewegung heranreift und dazu dient, Ungerechtigkeit rückgängig zu machen, aber auch die öffentliche Gesundheit zu fördern, müssen wir auch Wege finden, korrekte, unvoreingenommene Informationen über gesundheitliche Risiken an die Öffentlichkeit zu bringen.“
Das beginnt damit, dass man seine eigene Beziehung zu Cannabis als einzigartig anerkennt und versteht, dass man die Erfahrungen anderer nicht darüber definieren kann. Dazu ist es nötig, denjenigen zu helfen, die Hilfe brauchen, und eine Umgebung zu schaffen, in der sie andere Bindungen eingehen können als nur zu Cannabis. Und natürlich ist es nötig, dass wir in unserer Unterstützung für Cannabis beständig bleiben, damit Entscheidungsträger und auch die Öffentlichkeit niemals vergessen, wie sehr dieser Krieg gegen Drogen Patienten und Bürgern gleichermaßen geschadet hat, deren einziger Wunsch es war, einen Kontaktpunkt mit der Welt zu haben.