Der Schmerz – ewiger Begleiter
Die Schmerzen setzten bei Anja (Name geändert, Anm. d. Red.) bereits in ihrer Kindheit ein. Alles begann mit Schmerzen in den Knien. In der Schule konnte das Mädchen nicht lange ruhig dasitzen, denn dann taten die Knie besonders weh. Schnell wurde sie von den Lehrern als “Zappelphilipp” abgestempelt. Darüber hinaus überkam sie oft eine plötzliche Müdigkeit. So fiel es ihr sehr schwer, sich zu konzentrieren und gute Leistungen zu bringen.
Das erste Mal war Anja wegen Schmerzen in den Beinen mit 13 Jahren beim Arzt. Dieser verschrieb ihr allerdings nur eine Sportsalbe. Danach folgten zahlreiche Besuche bei Orthopäden und anderen Ärzten. Die Schmerzen blieben – aber eine Erklärung, woher sie stammen, erhielt Anja nicht.
Marathon von Arzt zu Arzt
Im Laufe ihre Lebens hat Anja so ziemlich jede Therapieform gegen ihre starken und unerklärlichen Schmerzen ausprobiert: Bestrahlung, Fango, Massage, anthroposophische und homöopathische Mittel sowie klassische Schmerzmedikamente. Viele Jahre lang hat sie Psychotherapie erhalten. Die Zahnärztin entfernte ihre Amalgamfüllungen und machte eine “Ausleitung der Gifte”. Anja lief von einer Arztpraxis zur nächsten.
“Manche dieser Ärztinnen und Ärzte bezweifelten sogar, dass ich überhaupt krank bin,” erzählt uns Anja. “Zum Beispiel hat mir ein Orthopäde gesagt, der mir mehrfach aufgrund seiner Fachkompetenz empfohlen worden war, dass ich vollkommen gesund sei. Ich solle einfach morgens das Fenster weit öffnen und mit ausgebreiteten Armen mir selber verkünden, dass ich glücklich sei. Ich glaube, ich brauche nicht zu betonen, wie absurd diese Empfehlung mir in meinem Zustand erschien.”
Fibromyalgie-Syndrom
Menschen, die an Fibromyalgie leiden, werden nicht selten als eingebildete Kranke abgestempelt. Mediziner und das soziale Umfeld nehmen die Leiden oft nicht erst oder tun sie als psychosomatisch ab. Dabei kann das Fibromyalgie-Syndrom stärkste Schmerzen hervorrufen.
Typische Symptome für die Erkrankung sind Muskelschmerzen, Schlafstörungen und ein Erschöpfungsgefühl. Auch Gelenkschmerzen und Muskelkrämpfe können auftreten sowie das Reizdarmsyndrom oder das Restless-Legs-Syndrom. Hinzu kommen häufig psychische Symptome wie eine depressive Verstimmung. Das chronische Schmerzsyndrom ist zwar gutartig, bedeutet aber einen hohen Leidensdruck für die Betroffenen.
Ein neuer Start in Berlin
Mit einundzwanzig Jahren zog Anja nach Berlin. “Meine Schmerzen waren zu dem Zeitpunkt nicht mehr dauerhaft und ständig, manchmal vergaß ich sie komplett.” Die ausgebildete Erzieherin fand in Berlin Arbeit, die ihr viel Freude bereitete. Bei der Arbeit war sie meist in Bewegung. In der Freizeit ging sie oft Tanzen und trainierte dreimal die Woche Kampfsport.
“Aus heutiger Sicht würde ich sagen, dass die viele Bewegung gutgetan hat und den Schmerz in meinen Beinen linderte. Noch mehr Bedeutung gebe ich allerdings dem Thema Wut. Im Jiu-Jitsu fand ich ein gutes Ventil für meine versteckten Aggressionen.”
Diese schmerzarme Phase hielt leider kein Jahr an. Dann plagten die Berlinerin vor allem morgens starke Schmerzen in den Schultern und Armen. Mit einer bleiernen Müdigkeit schleppte sie sich zu Arbeit. Dazu kamen häufig Kopfschmerzen und eine erhöhte Anfälligkeit für Infekte.
Auf der Suche nach einer Diagnose
Es folgten Jahre, in denen sich die Suche nach einer Diagnose wie ein roter Faden durch Anjas Leben zog. Mit jeder neuen Therapie gab es wieder Hoffnung auf Besserung, allerdings brachte keine Behandlung eine dauerhafte Linderung.
Viele Jahre lang schloss Anja schulmedizinische Medikamente aus, weil sie überzeugt von der Heilung durch anthroposophische Mittel war. So nahm sie lange Zeit Tropfen und Kügelchen, die bei ihr aber keine Wirkung zeigten. “Öle und Wickel, Massagen, Bäder und wöchentliche Heileurythmie gehörten auch dazu”, erzählt uns die Schmerzpatientin.
Aber auch eine klassische medikamentöse Therapie zeigte nur kurzfristig Besserung und die homöopathische Behandlung wirkte nicht. Sie ließ ihre Zähne und ihren Darm sanieren. Wegen des Verdachts auf Borreliose nahm sie sechs Wochen ein Antibiotikum – ohne Erfolg.
1998 war Anjas Verzweiflung so groß, dass sie sich zur stationären Behandlung in eine Klinik begab. Zu dem Zeitpunkt war sie dreißig Jahre alt und ich hatte inzwischen zwei Kinder.
“Alle meine Freundinnen und Freunde bewunderten mich dafür, was ich trotz meiner Erkrankung geleistet hatte und wie großartig ich als Mutter zurechtkam. Niemand ahnte, wie schlecht es wirklich um mich stand. Um ehrlich zu sein: Nur meine Kinder hielten mich am Leben! In der Klinik wurde ich auf den Kopf gestellt, alle möglichen Krankheiten wurden in einer Art Ausschlussverfahren abgecheckt.”
Nach vier Wochen wird Anja entlassen – ohne Diagnose und mit dem Rat, eine Psychotherapie zu machen. Sie begibt sich daraufhin in eine Praxis für psychosomatische Schmerzen. Dort ist sie sechs Jahre in Behandlung – ebenfalls ohne großen Erfolg.
Endlich eine Diagnose – und ein Schock
Das Fibromyalgie-Syndrom wird bei Anja im Jahr 2000 von einem sachkundigen Rheumatologen diagnostiziert. Damals ist sie 34 Jahre alt.
“Endlich hatte ich eine Diagnose”, erzählt die Berlinerin. “Ich wusste plötzlich, was mit mir los war und es gab einen Namen, eine Bezeichnung. Fibromyalgie – das Wort hatte ich noch nie gehört. Aber alles, was ich in der Broschüre las, entsprach genau dem, was mich seit Jahren quälte. Zunächst war ich ganz euphorisch – endlich Hoffnung auf Heilung!”
Die anfängliche Begeisterung weicht aber schnell dem Gefühl, in ein tiefes Loch zu fallen: Fibromyalgie ist nicht heilbar. Die Betroffenen können nur versuchen, möglichst gut und möglichst symptomfrei zurechtzukommen.
Inzwischen lebt Anja seit 20 Jahren mit dieser Diagnose. Ihre Symptome sind zahlreich: von Schmerzen in Muskeln und Gelenken bis zum Reizdarm-Syndrom, von Migräne bis zum Restless-Legs-Syndrom, von Lichtempfindlichkeit bis zur Depression und noch viele, viele mehr.
Anja hat “das ganze Spektrum an Medikamenten aus der Schmerztherapie” ausprobiert – ohne Erfolg. “Die schlimmsten Zeiten waren die, in denen ich aus purer Verzweiflung Opiate wie Tilidin und Oxycodon zu mir genommen habe”, so Anja.
Die Schmerzpatientin leidet unter den starken Nebenwirkungen der Medikamente. Zwei Mal macht sie einen schweren Medikamentenentzug mit. Zusätzlich erhält sie ein sogenanntes multimodales Behandlungskonzept. Das bedeutet: Psychotherapie, Physiotherapie, Bewegung und Entspannungstherapie.
“Ich habe nichts unversucht gelassen, um meine Schmerzen zu lindern, wozu auch Heilfasten, Kältetherapie, Wärmetherapie, Akupunktur, Osteopathie und Ernährungsumstellung gehören. Meine Erfahrungen mit der Fibromyalgie haben gezeigt, dass die verschiedenen Symptome kommen und gehen. Manchmal kann ich einen Zusammenhang zu meiner gegenwärtigen Lebenssituation feststellen, oft aber auch nicht. Ich habe aufgehört, nach dem „Warum“ zu fragen.”
Langsame Besserung der Symptome mit Medizinalcannabis
Seit September 2018 erhält Anja Cannabis als Medizin. Zunächst hatte sie ein Rezept für Dronabinol, danach für einen Cannabis-Vollextrakt. Seit Februar 2019 nimmt die Schmerzpatientin Cannabisblüten ein. Ihre Hausärztin verschreibt ihr die Cannabinoide und ihre Krankenkassen hat den Antrag auf Kostenübernahme überraschend schnell und problemlos genehmigt.
“Ich habe damals dem Antrag meine Krankheitsvita und Studien bzw. Berichte aus dem Internet über die Wirkung von Cannabis bei chronischen Schmerzen beigefügt. Außerdem habe ich eine lange Liste von Medikamenten beigelegt, die ich bis dahin genommen hatte. Meine Ärztin meinte, es sei wichtig, wirklich alle Medikamente zu nennen, die ich bereits wegen der Fibromyalgie genommen hatte. Letztendlich habe ich von der Antragstellung bis zur Bewilligung ungefähr sechs Wochen gebraucht.”
Seitdem Anja mit der Cannabistherapie begonnen hat, geht es ihr langsam immer besser. “Ich habe das Gefühl, ein anderes Leben zu führen”, erzählt sie uns. Ihren geliebten Beruf als Erzieherin musste Anja leider bereits vor Jahren aufgeben, weil er zu anstrengend für sie wurde. Dafür hat sie jetzt wieder die Möglichkeit, kreativ zu sein, zu fotografieren und zu stricken – was früher aufgrund der Krankheit so nicht möglich war. Darüber hinaus ist die 54-Jährige sehr glücklich mit ihrem zweiten Ehemann verheiratet.
“Meine Familie und Freunde sind genauso froh wie ich, weil ich wieder viel mehr Spaß am Leben habe und Lachen kann!”
Patienteninfos
Name: Anja
Alter: 53
Wohnort und Bundesland: Berlin – Kreuzberg
Krankenkasse: Techniker Krankenkasse
Diagnose/n: Fibromyalgie, Restless-Legs-Syndrom, Fatigue
Medikation: Cannabisblüten, Amitriptylin
Fachrichtung des verschreibenden Arztes: Ärztin für Allgemeinmedizin, Hausärztin
Das Leafly.de Patienteninterview
Leafly: Seit wann wendest Du Cannabis als Medizin an?
Anja: Ich habe im September 2018 mit der Cannabistherapie angefangen. Zunächst habe ich Dronabinol in Form von Kapseln genommen. Die Wirkung war kaum spürbar. Dann habe ich Tropfen mit dem Namen Tilray 10:10 probiert. Zunächst hat es mich ein wenig entspannt, aber die Wirkung ließ schnell nach. Im Februar 2019 habe ich einen Vaporizer und Blüten bekommen.
Leafly: Wie bist Du denn darauf gekommen?
Anja: Ich habe die Diskussion über Cannabis in der Medizin schon ganz lange verfolgt und mir gewünscht, irgendwann die Möglichkeit zu haben, das auszuprobieren. Es gab etliche Freund*innen in meinem Umfeld, die mir immer wieder vorschlugen, mir illegal Cannabis zu besorgen. Aber das habe ich stets abgelehnt. Wenn, dann wollte ich Cannabis legal beziehen und in einer gleichbleibenden Qualität.
Als die Gesetzeslage sich geändert hatte, habe ich mich an meine Schmerzärztin gewendet, aber sie hat eine Cannabistherapie strikt abgelehnt. Dann habe ich gelesen, dass auch die Hausärztin berechtigt sei, Cannabis zu verschreiben. Daraufhin habe ich meine Hausärztin gefragt und sie hat zum Glück sofort zugestimmt. Sie hat mir allerdings auch gesagt, dass sie mich unterstützen wird, aber keine Ahnung von Schmerztherapie hat und sich auch nicht mit Cannabis in der Medizin auskenne. Also habe ich mich selbst schlaugemacht und bin bei der Recherche auf der Seite von Leafly gelandet.
Leafly: Wie war das erste Mal?
Anja: Als ich zum ersten Mal die Dronabinol-Tropfen zu mir genommen habe, hatte ich tatsächlich ein Gefühl, als sei ich bekifft. Ich fühlte mich unglaublich entspannt, alle Muskeln wurden weich und ließen los und ich fühlte mich wie auf Wolken. Diese Wirkung war aber nur flüchtig und hat nur einige Minuten angehalten. Was mich aber sofort von der Richtigkeit dieser Form der Schmerzlinderung überzeugt hat, war die muskelentspannende Wirkung. Mein angespannter Muskeltonus konnte endlich loslassen.
Leafly: In welchen Momenten wendest Du es an?
Anja: Inzwischen benutze ich einen Vaporizer und zwei verschiedene Cannabisblüten, Bedrocan und Bakerstreet. Meistens verdampfe ich gleich morgens nach dem Aufstehen Bedrocan, weil ich morgens große Schmerzen habe. Und danach je nach Bedarf, Tagesform und wie viele Termine ich habe, verdampfe ich vier – bis fünf Mal am Tag Bedrocan. Abends verdampfe ich Bakerstreet, vor allem kurz vor dem Einschlafen.
Leafly: Hattest Du Schwierigkeiten mit der Krankenkasse?
Anja: Nein, da habe ich wohl sehr viel Glück gehabt. Meine Hausärztin hatte mich schon darauf vorbereitet, dass das ein langer Kampf werden könnte. Allerdings meinte sie, nachdem ich die Cannabistherapie bewilligt bekommen hatte, dass mein Antrag wohl sehr gut formuliert und ausführlich begründet gewesen sei.
Leafly: Hast Du Angst vor einer Abhängigkeit?
Anja: Überhaupt nicht! Ich kann das Cannabis sehr gut dosieren und verdampfe nie so viel, dass ich davon „high“ werde. Cannabis hat meine Lebensqualität um 100 Prozent erhöht. Die Abhängigkeit von Opiaten, bei denen ich stetig die Dosis erhöhen musste, war viel extremer und hat mir sehr viel mehr Angst gemacht.
Leafly: War Dein Medikament einmal nicht lieferbar? Was hast Du dann gemacht?
Anja: Bisher waren meine Cannabisblüten immer lieferbar.
Leafly: Geht es Dir gut? Bist Du jetzt glücklich?
Anja: Mir geht es viel besser, seitdem ich Cannabis gegen meine Schmerzen anwende. Ich habe inzwischen drei Medikamente, die ich regelmäßig genommen habe, abgesetzt. Das letzte verbleibende reduziere ich gerade, sodass ich es vielleicht demnächst auch nicht mehr nehmen muss. Ich schlafe sehr viel besser, bin ruhiger und ausgeglichener. Meine Schmerzen sind in den Hintergrund getreten und ich kann endlich wieder mein Leben genießen. Ich bin sehr glücklich über diese Entwicklung und darüber, dass ich die Möglichkeit habe, Cannabis anzuwenden.
Liebe Anja, vielen Dank für dieses schöne Gespräch. Wir wünschen Dir alles Gute.
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