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Leafly.de Patientenakte: Patrick, 35, Bayern, Tourette

Uta Melle Gand Mal Epilepsie Überleben Autor:
Uta Melle

Das Leben von Patrick ist zum großen Teil von Tourette geprägt. Die meist ziemlich auffälligen Tics, die Tourette mit sich bringt, sind für die Gesellschaft und auch den Betroffenen selbst, eine ständige Herausforderung. Patrick meistert seine Erkrankung mit der Hilfe von cannabinoidhaltigen Arzneimitteln.

Leafly.de Patientenakte: Patrick, 35, Bayern, Tourette
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Vorab sei erwähnt, dass nicht alle Tourette Betroffenen unter Koprolalie, also dem Ausrufen von Schimpfwörtern & Co leiden. Patrick schon, zumindest zeitweise. Meist, wenn er unter Anspannung steht, wenn er auf neue Situationen und Menschen trifft – was im normalen Lebensalltag selbstredend ständig passiert.

Natürlich wundert man sich als Außenstehender, wenn jemand plötzlich zuckt, grimassiert und laute Schimpfworte von sich gibt – doch eigentlich sollten wir alle inzwischen so gut informiert sein, dass wir besser damit umgehen könnten. Da das leider noch nicht der Fall ist, bleibt Patrick nichts anderes übrig, als alles zu versuchen, seine Tics zu reduzieren.

Als Patrick vier Jahre alt war, zeigten sich die ersten kleinen Anzeichen für Tourette: Augenblinzeln, Kopfrucken, Grimassieren und weitere motorische Tics. Wenige Jahre später kamen dann auch vokale Tics hinzu.

Seine Eltern waren zu diesem Zeitpunkt ziemlich rat- und hilflos, da Tourette vor 25 Jahren weitestgehend unbekannt war. So wurde Patrick im Alter von neun Jahren für ein knappes Jahr stationär in eine Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen. In dieser Zeit wurde dann auch die Diagnose Tourette gestellt. Endlich hatte „es“ einen Namen.

Mit der Diagnose kamen die Medikamente und die Nebenwirkungen

Da der Grund des Tourettesyndroms (übrigens bis heute) unbekannt ist, wurden Patrick verschiedenste Präparate wie Haloperidol, Tiaprid, Anafranil & Co. verordnet. Keines half, doch jedes brachte schwere Nebenwirkungen.

Als Beispiel nannte Patrick Depressionen sowie insbesondere Angstzustände und Halluzinationen, die so weit gingen, dass selbst Überwinden von Bordsteinkanten oder Treppenstufen zu einer unmöglichen Aufgabe wurde. Die Angst zu fallen war zu groß.

Weiter wurden an Patrick auch in Deutschland nicht zugelassene Medikamente ausprobiert, doch auch hier wurden die Nebenwirkungen immer absurder. Ein Präparat bewirkte beispielsweise, dass Patrick lediglich einige wenige Stunden pro Tag wach war, den Rest des Tages jedoch verschlief. Merkwürdigerweise notierten die Ärzte hier einen Erfolg, da die Tics ja massiv verringert wurden.

Patricks Leben mit Tourette

Mit der Zeit lernte Patrick besser mit Tourette zu leben. Das war nicht leicht. Sehr oft stieß er auf Unverständnis. Beispielsweise bei seiner theoretischen Führerscheinprüfung.

Eigentlich bestand er sie perfekt. Der Prüfer sah jedoch, wie sich seine Hand beim Ausfüllen des Fragebogens kurzzeitig verkrampfte. Er ließ daraufhin mitteilen, dass Patrick mit diesen „Spastiken“ mitnichten zum Führerschein zugelassen werden dürfe.

Drei Monate kämpfte sich Patrick mit Attesten und Belegen durch die Bürokratie, bis ihm die Führerscheinstelle letztendlich sagte, dass er doch für den Führerschein zugelassen werden kann. Tourette sei in der Führerscheinstelle nicht verzeichnet und somit kein Grund, um nicht Auto fahren zu dürfen.

Das Leben mit Tourette ist nicht leicht. Erschwert wird die Situation dadurch, dass die Tics sich verdichten, wenn sich der Druck erhöht. Je mehr Menschen um Patrick herum sind und je unbekannter Situationen für ihn sind, umso mehr steigt sein Ticlevel.

Im sicheren Raum, wie seiner Wohnung oder zu Hause, ist er fast ticfrei. Bis er etwa 30 Jahre alt war, ließ sich Patrick trotzdem nicht von Tourette einschränken. Er erlernte einen Beruf, der ihm Spaß macht, und besitzt den Motorrad- und Autoführerschein.

Mit zunehmendem Alter wurde es für Patrick allerdings immer schwerer mit Tourette zu leben. Aufgrund der mit dem Alter einhergehenden, veränderten Selbstwahrnehmung und dem Druck in der Gesellschaft nicht auffallen zu wollen, begann er sich immer mehr zurückzuziehen.

Patrick entdeckt Cannabis als Medizin für sich

Schon Ende der 90er Jahre hörte Patrick von den Möglichkeiten des medizinischen Einsatzes von Cannabis bei Tourettepatienten in einem Vortrag von Frau Dr. Müller-Vahl. Damals noch minderjährig behielt er es als Möglichkeit im Hinterkopf.

Im Mai 2017 versuchte er erstmalig Sativex. Leider zeigte dies keine wahrnehmbaren positiven Veränderungen. Die folgenden Experimente mit Cannabisblüten aus der Apotheke ergaben, dass ihm Sorten mit hohem THC-Gehalt, wie Bakerstreet oder Bedrocan, sehr gut anschlugen.

Patricks Tics sind nun merklich weniger geworden. Eine Dosis von ungefähr 0,1 bis 0,2 Gramm bewirkt eine innere Ruhe bei ihm, die zwischen 45 Minuten und 2 Stunden anhält. Der Druck, der den Ticschüben voransteht, wird immens verringert, die Tics werden weniger.

Inzwischen geht es Patrick – bis auf seine Angststörung, welche die Tics zeitweise und situationsbedingt unkontrollierbar macht – ziemlich gut. Beruflich ist er erfolgreich, seine Familie und sein Partner stehen hinter ihm.

„Daheimzusitzen und mich von meiner Behinderung ausbremsen lassen, ist absolut nichts für mich“, sagt er.

Sehr gerne weisen wir auf das Tourette-Sommercamp 2018 hin.
Alle Infos und einen ersten Eindruck vom Camp in Bild und Ton

Anm. d. Red.: Ich habe lange nicht mehr mit einem so klaren Menschen gesprochen. Patrick steht wie eine Eins im Leben. Er hat sein Schicksal akzeptiert und macht das Beste draus. Patrick, Du hast meinen absoluten Respekt!

Patienteninfos
Name: Patrick
Alter: 35
Wohnort/Bundesland: Nürnberg, Bayern
Krankenkasse: Techniker Krankenkasse
Diagnose: Tourette-Syndrom, ADHS
Medikation: Cannabisblüten, Cannabisextrakte
Fachrichtung des verschreibenden Arztes: Neurologe

Das Leafly.de Patienteninterview

Leafly.de: Seit wann wendest Du Cannabis als Medizin an?
Patrick: Seit Mai 2017.

Leafly.de: Wie bist Du darauf gekommen?
Patrick: Gegen Mitte/Ende der 90er Jahre habe ich auf der Jahrestagung der Tourette Gesellschaft einen Vortrag von Fr. Dr. Müller-Vahl der MHH zum Thema Cannabis bei Tourettepatienten gehört. Da ich damals minderjährig war, lag die Medikation außerhalb meines Einflusses und ich musste die Medikamente nehmen, die Ärzte damals als mehr oder weniger sinnvoll erachtet haben. Auf die Ticsymptomatik hatte keines der unzähligen Medikamente einen positiven Einfluss. Nur die Nebenwirkungen wie Depressionen, krasse Angstzustände, heftige Schweißausbrüche etc. waren spürbar. Zeitweise bin ich durch all die bunten Psychopharmaka wie ein Zombie durch die Gegend gegangen. Vor etwa einem Jahr habe ich Kontakt zu einem Tourettepatienten aufgebaut, der schon vor März 2017 eine Ausnahmeerlaubnis zur Behandlung mit Cannabis hatte. Ich war begeistert, welche Auswirkungen Cannabis auf seine Tics hatte. Also habe ich mich gut informiert und mich um eine Verordnung von cannabisbasierten Medikamenten gekümmert.

Leafly.de: Wie war das erste Mal mit Cannabis?
Patrick: Da ich vorher noch nie mit Cannabis in Kontakt gekommen bin, war „das erste Mal“ natürlich ein spannendes Erlebnis. Als Erstes habe ich mich an Sativex herangetastet. Leider blieb hier die erwünschte Wirkung, sprich eine Ticreduzierung, aus. Ehrlich gesagt war mir meist nur etwas schwindelig und ich wurde müde. Daraufhin habe ich dann verschiedene Blütensorten ausprobiert. Letztendlich habe ich herausgefunden, dass sich besonders Sorten mit einem hohen THC-Gehalt wie Bakerstreet oder Bedrocan sehr positiv auf meine Tics auswirken. Mittlerweile habe ich auch „meine Dosierung“ gefunden, bei der ich eine Zeit lang fast komplett Ticfrei bin und auch keine Nebenwirkungen spüre.

Leafly.de: In welchen Momenten wendest Du es an?
Patrick: Grundsätzlich unterscheide ich zwischen zwei Einnahmearten: Um meinen Spiegel an Cannabioiden über den Tag zu halten und so eine Art „gleichmäßige Ruhe“ zu haben, verwende ich Cannabisextrakte wie z.B. Tilray THC25 oder THC10:CBD10. Bei akuten Ticschüben oder wenn ich konzentriert und ruhig sein will oder muss, inhaliere ich Cannabisblüten mittels eines Verdampfers. Dabei merke ich, dass die Wirkung innerhalb von etwa fünf Minuten eintritt und von 45 Minuten bis hin zu 2 Stunden anhält. Durch die Kombination mit dem oral aufgenommenen Cannabis, bei welchem die Wirkung bei mir erst nach etwa 45 Minuten eintritt, jedoch drei bis fünf Stunden anhält, fühle ich mich mittlerweile viel wohler und sicherer.

Leafly.de: Welchen Wirkstoff hat das Präparat und in welcher Dosierung nimmst Du es?
Patrick: Tilray THC10:CBD10 enthält 10 mg THC und 10 mg CBD pro ml, das THC25 enthält 25 mg pro ml. Ich nehme drei Mal am Tag bis zu 12,5 mg Wirkstoff (THC) davon ein. Cannabisblüten verdampfe ich zusätzlich nach Bedarf. Hier reicht mir meistens eine Einzeldosis von 0,1 bis 0,2 Gramm Bedrocan oder Bakerstreet aus, um Ticschübe einzudämmen, aber noch klar im Kopf zu sein.

Leafly.de: Gibt es Schwierigkeiten mit der Krankenkasse?
Patrick: Nein, zum Glück nicht. Meine Krankenkasse hat mich da sehr gut unterstützt und mir keine Steine in den Weg gelegt. Allerdings habe ich den Antrag zusammen mit meinen Ärzten sehr gut vorbereitet, sodass seitens der Krankenkasse und des MDKs keine Fragen mehr offen waren. Ich schätze diese unproblematische Situation sehr, da ich oft Berichte von Menschen höre und lese, die hier nur mühsam vorankommen.

Leafly.de: Hast Du Angst vor einer Abhängigkeit?
Patrick: Nein. Ich beobachte mich und meinen Gesundheitszustand sehr genau. Ich glaube, dass sich gerade die Menschen, die Cannabis aus medizinischen Gründen nehmen, sehr verantwortungsvoll mit der Materie beschäftigen. Es geht ja darum, wieder ein lebenswertes Leben führen zu können.

Leafly.de: War Dein Medikament schon einmal in der Apotheke nicht lieferbar? Wenn ja, wie lange nicht und wie hast Du die Situation lösen können?
Patrick: Ja. Die Versorgungslage war 2017 schon sehr mies. Also habe ich mir dann eben, sobald meine Apotheke wieder eine Lieferung erhalten hat, ein Rezept ausstellen lassen und gleich eine größere Menge bezogen, die mir mehrere Monate gereicht hat. Zeitweise habe ich auch andere Sorten ausprobiert oder den Engpass mit Dronabinol oder Tilray überbrückt.

Leafly.de: Bist Du arbeitsfähig? Hast Du einen Job? Oder bist Du früh pensioniert?
Patrick: Ich habe einen Job, in dem ständig neue Produkte entwerfe und vermarkte. Das macht mir richtig viel Spaß und ich bin damit sehr erfolgreich. Tourette sehe ich hierbei eher als hilfreich an, da meine Denkstruktur sehr kreativ aber in gleichem Maße organisiert abläuft. Meine Kollegen und Chefs sind da ganz locker, obwohl meine Tics sicher oft ziemlich nervig sind. Aber da müssen sie durch.

Vielen Dank, lieber Patrick, dass Du Dich bei uns gemeldet hast um uns Deine Geschichte zu erzählen.
Wollen auch Sie Ihre Geschichte berichten? Schreiben Sie uns an patienten@leafly.de

 

Weiterführende Links auf Leafly.de:
https://www.leafly.de/tourette-syndrom-medizinisches-cannabis/
https://www.leafly.de/medizinisches-cannabis-beim-tourette-syndrom/
https://www.leafly.de/cannabinoidhaltige-arzneimittel-bei-diesen-indikationen-sind-sie-geeignet/

 

 

Hinweis: In diesem Artikel berichten wir über rezeptpflichtiges CBD oder auch Cannabidiol. Dieser Artikel macht zur möglichen Zweckbestimmung keinerlei Vorschlag. Nutzversprechen bleiben den Apothekern überlassen.

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