Mit dem Cannabis-Gesetz vom März 2017 dürfen Arzneimittel auf der Basis von Cannabis sowie getrocknete Cannabisblüten schwer und chronisch Erkrankten auf Rezept verschrieben werden. Zudem müssen die Krankenkassen die Kosten für die Behandlung tragen – nur in begründeten Ausnahmefällen darf diese abgelehnt werden. Doch der Streit zwischen Ärzten, Patienten, Krankenkassen und Politik um Therapiehoheit der Ärzte für die Verordnung von Cannabis als Medizin weitet sich aus.
Kassen stellen sich häufig quer
Schon seit einigen Monaten zeigt sich aber, dass die Praxis anders aussieht: Die Krankenkassen akzeptieren nur rund 55 % der Anträge auf Cannabis-Therapie in der ersten Runde. Erhalten die Versicherten eine Ablehnung, können sie Widerspruch einlegen und Unterlagen nachreichen. Viele Anträge werden dann doch noch angenommen. Hinzu kommt, dass die Krankenkassen die Cannabis-Anträge grundsätzlich vom MDK (Medizinischer Dienst der Krankenversicherung) prüfen lassen.
Der Streit zwischen Versicherten und Krankenkassen macht viele schwerkranke Betroffene wütend. Durch die Prüfung der Anträge mithilfe des MDK hat die Krankenkasse fünf Wochen Zeit zur Bearbeitung. Wenn die Kasse den Antrag ablehnt und der Versicherte Widerspruch einlegt, verlängert sich der Prozess um bis zu drei Monate. In dieser Zeit müssen die Patienten auf andere Medikamente ausweichen, die sie nicht nehmen möchten – oder sie müssen ihre Cannabisprodukte aus eigener Tasche zahlen. Mehr dazu, wie sich das Cannabis-Gesetz in der Praxis bewährt, erfahren sie hier.
Wann darf Cannabis auf Rezept verschrieben werden?
Das Cannabis-Gesetz ermöglicht es Schwerkranken im Einzelfall, Cannabis als Medizin zu erhalten. Der behandelnde Arzt darf eine Cannabis-Verordnung ausstellen, wenn eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt und andere Medikamente nicht zur Verfügung stehen oder diese nicht eingesetzt werden können – beispielsweise, wenn sie beim Patienten starke Nebenwirkungen hervorrufen. Bedingung für eine Behandlung mit einem Cannabis-Arzneimittel ist, dass es nach Einschätzung des Mediziners eine positive Wirkung auf den Krankheitsverlauf hat oder dessen Symptome lindert.
Die Entscheidung über die Cannabis-Verordnung liegt in den Händen der Ärzteschaft – ohne eine Indikationsbeschränkung. Das bedeutet, im Cannabis-Gesetz ist nicht festgelegt, bei welchen Krankheiten Cannabisprodukte verschrieben werden dürfen und bei welchen nicht. Wann eine Behandlung mit Cannabinoiden sinnvoll und Erfolgversprechend ist, liegt allein im Ermessen und in der Verantwortung der behandelnden Ärzte – damit besitzen sie die Therapiehoheit.
Gerichte fällen unterschiedliche Urteile
Inzwischen befassen sich auch die Gerichte mit abgelehnten Anträgen auf Cannabis-Therapie – mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen: Nach einem Eilbeschluss des Sozialgerichts Düsseldorf (AZ: S 27 KR 698/17 ER) kann Cannabis nur als nachweislich letzter Ausweg zu lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden. Dagegen räumt das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz in Mainz den Ärzten deutlich mehr Therapiefreiheit ein (AZ: L 5 KR 140/17 B ER).
Sozialgericht Düsseldorf: Kein Cannabis bei anderen Therapieoptionen
Bei dem Düsseldorfer Fall handelt es sich um einen 67-jährigen Patienten, die an Polyarthritis (entzündliche Schmerzen der Gelenke) und Morbus Bechterew (Krümmung und Versteifung der Wirbelsäule) leidet. Der Schwerkranke wird bereits seit 2008 mit Cannabis behandelt. Die Medikamente, die er davor eingenommen hat, riefen schwere Nebenwirkungen hervor. Der Mann berichtete, dass er durch die Cannabis-Therapie keine Krankheitsschübe mehr habe und seine Schmerzen stark zurückgegangen seien.
Die Kosten von rund 1.000 Euro pro Monat trug der Patient in den letzten Jahren selbst. Mit Inkrafttreten des Cannabis-Gesetzes stellte er bei seiner Krankenkasse einen Antrag auf Kostenübernahme – den diese ablehnte.
Das SG Düsseldorf gab der Krankenkasse am 8. August recht: Eine Kostenübernahme für Cannabis setze voraus, dass bei schwerwiegender Erkrankung entweder keine anerkannte Behandlung zur Verfügung stehe oder eine solche nach der begründeten Einschätzung des behandelnden Arztes im konkreten Fall nicht in Betracht komme. Die letzte Standardtherapie des Patienten liege bereits 16 Jahre zurück. Daher könne man davon ausgehen, dass auch neuere Therapiemöglichkeiten – etwa mit Medikamenten, die die Immunabwehr unterdrücken – keine unzumutbaren Nebenwirkungen hervorrufen. (Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.)
Mainz: Gericht stärkt Therapiefreiheit des Arztes
Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz in Mainz entschied über den Fall eines 34-jährigen Klägers, der unter einer mit schmerzhaften Gelenkveränderungen einhergehenden Schuppenflechte (Psoriasis-Arthropathie) leidet. Nach Angaben des behandelnden Arztes befällt die Krankheit inzwischen nahezu alle Gelenke und führt zu einer Morgensteifigkeit von 60 Minuten. Andere Behandlungen als Cannabis hätten bisher keinen zufriedenstellenden Erfolg gebracht.
Auch in diesem Fall lehnte die Krankenkasse die Cannabis-Behandlung ab. Die Begründung: Der Arzt habe zahlreiche alternative Behandlungsmöglichkeiten nicht begründet ausgeschlossen. Das Gericht gab in diesem Fall dem Patienten recht: Sein Arzt habe die Behandlung befürwortet und dabei deutlich die Schmerzlinderung als Ziel benannt. Laut Gesetz dürften die Krankenkassen einen solchen Antrag nur in Ausnahmefällen ablehnen. Darüber hinaus habe der Arzt eine suchtmedizinische Zusatzqualifikation, sodass seine fachliche Entscheidung zentral sei.
Wie die Düsseldorfer Entscheidung, erging auch die Mainzer im Eilverfahren. Das bedeutet, beide gelten jeweils nur bis zu einem abschließenden Urteil.
Stärkung der Therapiehoheit war von Politik gewollt
Seit Jahren haben viele Patientinnen und Patienten darauf gewartet, eine Behandlung mit Cannabis zu erhalten und die Kosten von der Krankenkasse erstattet zu bekommen. Mit dem Cannabis-Gesetz vom 10. März 2017 hat der Bundestag dafür gesorgt, dass „die Therapiehoheit der behandelnden Ärztinnen und Ärzte in Sachen Cannabis gestärkt“ wird – so die SPD-Bundestagsfraktion. „Nur Ärztinnen und Ärzte können beurteilen, ob es medizinisch notwendig ist, Cannabis zu verordnen.“ Daher sind im Cannabis-Gesetz auch keine Indikationen vorgegeben, bei denen eine Cannabis-Verordnung ausgestellt werden darf – wann der Mediziner Cannabinoide verschreibt, ist allein seine Entscheidung.
Im Gespräch mit Leafly.de erklärt der drogenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion Burkhard Blienert:
„Im Gesetz steht, dass der Arzt Therapiehoheit bei schwerwiegenden Erkrankungen hat – wir wollten die Entscheidungsmacht des Arztes nicht einengen.“
Das komplette Interview mit Burkhard Blienert lesen Sie hier.
Patient muss nicht austherapiert sein
Im direkten Zusammenhang mit der Therapiehoheit des Arztes steht der Begriff „austherapiert“. Gerne geben Krankenkassen an, dass ein Patient erst austherapiert sein muss – also alle zur Verfügung stehenden Therapien ausprobiert haben muss – bevor die Versicherung eine Cannabis-Behandlung übernimmt. Und auch der Eilbeschluss des Sozialgerichts Düsseldorf legt diese Interpretation des Cannabis-Gesetzes nahe. Jedoch haben Politiker aller Bundestagsfraktionen betont, dass sie den Patienten gerade ermöglichen wollen, eine Cannabis-Therapie zu erhalten, ohne dass sie vorher alle Standardtherapien ausprobieren müssen. Denn „alles andere hätte die Leidenszeit vieler Patientinnen und Patienten unnötig verlängert“, so die SPD-Fraktion.
Der Entwurf der Regierung zum Cannabis-Gesetz wurde in den parlamentarischen Beratungen an einigen Stellen noch verändert. In der endgültigen Form des Gesetzes ist die Therapiehoheit des Arztes sichergestellt. Auf der Webseite des Deutschen Bundestages ist nachzulesen:
„So sollen die Ärzte eigenverantwortlich entscheiden, ob eine Cannabis-Therapie sinnvoll ist, auch wenn im Einzelfall noch andere Behandlungsoptionen bestehen. Die Patienten müssen also nicht „austherapiert“ sein, wie es anfangs hieß, bevor sie einen Anspruch auf ein Cannabis-Rezept haben.“
Der Wille des Gesetzgebers wird hier ganz deutlich.
GKV nimmt Einfluss auf Therapiehoheit
Dr. med. Eva Milz, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie aus Berlin, hat sich auf die Behandlung mit Cannabisprodukten spezialisiert. Das Verhalten der Krankenkassen empfindet sie als „unkooperativ“. Im Deutschen Ärzteblatt holt die Medizinerin weiter aus:
„Die Entscheidungsmacht der Krankenkassen untergräbt die gesetzlich geschaffene Option der Therapiehoheit des Arztes.“
Wenn die Krankenkassen entscheiden, welche Therapie dem Patienten zusteht und welche nicht, hat der Arzt faktisch keine Therapiefreiheit mehr. Daher erklärt auch Frank Tempel, drogenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Die Linke:
„Langfristig müssen wir dazu kommen, dass Cannabis immer dann erstattet wird, wenn es der Arzt verschreibt.“
Das komplette Interview mit Frank Tempel lesen Sie hier.
Quellen: