Im Oktober 1985 fuhr ich mit unserer Plöner DLRG-Mannschaft zu einem Wettkampf nach Göteborg. Wir waren ab Kiel auf dem Fährschiff Kronprinzessin Victoria untergebracht – eine Horde sportlicher Jugendliche: keine Frage, wir haben es krachen lassen. Der Wettkampf war hart: Ich hatte sechs Wettkämpfe an einem Tag. Anschließend sind wir wieder an Bord gegangen und haben selbstverständlich wieder ausgelassen gefeiert. Am nächsten Morgen, wurden wir kurz vor Kiel wieder geweckt – an den Rest kann ich mich nicht mehr erinnern, denn ich erlitt meinen ersten Grand Mal.
Der erste Grand Mal
Was passierte, kann ich nur aus den Erzählungen der anderen erklären. Meine Kajütennachbarin Miriam erzählte mir, dass ich direkt nach dem Aufwecken umfiel, die Augen verdrehte und der ganze Körper spastisch zuckte.
Sie holte sofort meine Mutter (auch DLRG-Schwimmerin) und einen unserer besten Sanitäter Sönke. Inzwischen bildete sich blutiger Schaum an meinem Mund. Mein Glück war, dass alle DLRG-Schwimmer regelmäßig Erste-Hilfe-Kurse machen müssen, so war jedem schnell klar, dass es sich um einen epileptischen Anfall handeln musste.
Die Fähre legte an, der Hafen war schon informiert, die Rettungssanitäter kamen sofort und ich wurde mit Valiumspritzen ruhig gestellt und im Rettungstuch aus den schmalen Schiffsgängen getragen. An diese Situation kann ich mich noch weit entfernt erinnern. Ich erblickte viele entsetzte Gesichter, die mich anstarrten – doch ich grinste breit zurück und dachte: „Was habt ihr denn, ist doch alles voll peacig“ … das Valium wirkte wohl.
Das Erwachen
24 Stunden später erwachte ich im Kieler Krankenhaus mit einem blauen Fleck von der Schulter bis zur Hand am Innenarm von den Versuchen, mir die Valiumspritzen zu setzen, Schmerzen am ganzen Körper und vor allem im Mund.
Kurze Zeit später kamen meine Eltern und meine Schwester hinzu und man erklärte mir, dass ich jetzt eine Epilepsie habe. Schnell wurde ich auch auf sämtliche Regeln für mein zukünftiges Leben hingewiesen: nicht mehr Mofa fahren, Führerschein machen. Ist fraglich, immer acht Stunden schlafen, denn diese Form der Epilepsie reagiert auf Schlafentzug und tritt morgens auf. Kein Alkohol und täglich Medikamente namens Valproinsäure nehmen.
Meine Schwester ergänzte, dass das mit dem Mofa gar nicht so schlimm wäre, da in der Nacht zuvor irgendwer meine Hercules angezündet hatte. „Na – dann ist ja gut“ dachte ich ironisch bei mir und in meinem Kopf drehten sich diese Informationen erst einmal wie ein Karussell.
In den anschließenden sechs Tagen im Krankenhaus hörte ich aus einem Zimmer immer wieder Schmerzensschreie. Ich frage, was das Mädchen hat und die Schwester sagte traurig „Nervenschmerzen – das zerreißt mir das Herz, aber leider können wir da derzeit nicht helfen“. Ab dem Moment ging es mir wieder besser, denn ich war dankbar, dass man mir helfen konnte.
Mein Leben mit der Epilepsie
In unserer wunderschönen kleinen Stadt Plön hatte sich das mit dem Anfall innerhalb kürzester Zeit herumgesprochen. In der ersten Schulstunde nach dem Krankenhaus stellte ich mich vor die Klasse, sagte, dass ich jetzt eine Epilepsie habe, und erklärte, was man machen muss, wenn ich einen Anfall bekomme: Alles aus dem Weg räumen, beruhigen, Arzt holen – nicht festhalten, denn ich würde mir eher selbst den Arm brechen, als dass ich es zulassen würde, gehalten zu werden. Somit war ich gut abgesichert, wenn mir mal, was passieren sollte und die unter pubertierenden Menschen normale Kicherei war im Keim erstickt.
Ansonsten habe ich mich so gut wie möglich an die Grundsätze gehalten, sodass ich außer kleinen Zuckungen erst einmal keine Grand Mals hatte. Ich konnte den Führerschein und das Abitur machen, kellnerte immer neben der Schule, zügelte mich immer mit dem Alkohol und plante nach Partys immer eine lange Ausschlafzeit ein. Ein ganz normales Leben also.
Direkt nach dem Abitur zog ich nach Stuttgart, um eine Ausbildung zu machen. Am Wochenende kellnerte ich noch zusätzlich. Alles schien möglich. Einmal übertrieb ich und Zack – war der nächste Grand Mal da. Meine Reaktion auf den Anfall war das Hochdosieren des Valproates – dadurch wurde ich allerdings tagsüber immer müder, vergesslicher und unkonzentrierter. Mein Leben habe ich jedoch nicht zusätzlich eingeschränkt. Ich wollte immer alles.
Zwischen Anfällen, Dosierungen und Nebenwirkungen
1991 zog ich nach Berlin, arbeitete hart, studierte nebenbei und fing an in Werbeagenturen zu arbeiten. 60 bis 70 Stunden pro Arbeitswoche wurden zur Normalität und die Wochenenden passte ich dem zauberhaft bunten Berliner Leben der 90er an.
Die Konsequenzen: Mehr Anfälle, die Dosierung bis zum Maximum hochtreiben – natürlich immer mit den Konsequenzen der Nebenwirkungen. Doch zu dem Zeitpunkt begann ich meinem Körper zu misstrauen. Ich hatte Angst vor Anfällen und hielt mich mehr an die Regeln.
Die Ärzte machten mir immer mehr Angst. Sie sagten, dass ich bisher viel Glück gehabt hätte, dass ich überhaupt das Abitur und das Studium geschafft habe. Auch machten sie mir klar, dass ich keine Kinder bekommen kann, da das sehr schwer mit der Epilepsie sei und weil ich noch eine Nierenfehlbildung hatte (das wurde bei mir 1977 festgestellt).
Zusätzlich attestierten sie mir eine Lebenserwartung von insgesamt circa 35 Jahren. Ich fand mich also damit ab, ein kurzes kinderloses Leben zu haben – doch diese Zeit wollte ich auskosten.
Kinder? Dann doch
Ende der 90er lernte ich dann einen großartigen Mann kennen und lieben. Eines Tages fragte er mich, ob wir Kinder haben wollen – aus dem Bauch heraus antwortete ich spontan „ja“ und einen Monat später war ich schwanger. Er war der richtige Mann, der meine Kinder zur Not, falls mir etwas passieren sollte, auch alleine großziehen konnte.
Für die Schwangerschaft musste ich mein Valproat auf ein Minimum herunter dosieren, was einige Anfälle zur Folge hatte, doch alles ging gut: Mathilde kam gesund und munter auf die Welt. Zwei Jahre später sollten wir ein zweites Kind.
Hierfür wollte ich mich besser vorbereiten und suchte mir einen Spezialisten. In dieser Schwangerschaft hatte ich dann leider mit anderen Nebenwirkungen, wie doppelt sehen und neuen Kontrollverlusten zu kämpfen – die Anfälle wurde jedoch nicht minimiert. Als Marlene auf der Welt war, kam dann noch ein neuer Wirkstoff auf den Markt und mein Professor dosierte mich schnell hoch darauf ein.
Neuer Wirkstoff, keine Anfälle – aber die schlimmsten Nebenwirkungen
eue Medikament hieß Levetiracetam. Ich hatte tatsächlich keine Anfälle. Doch die Nebenwirkungen, die sich langsam eingeschlichen, habe ich erst Jahre später erkannt: Meine Persönlichkeit veränderte sich. Von einer lebenslustigen, aktiven, glücklichen Frau wurde ich zu einem aggressiven, trägen, passiven, müden Monster.
Permanente Infekte schüttelten mich, ich konnte nicht schlafen und die kleinsten Aktionen wurden für mich zur Tortur. Mein Professor negierte meine Annahmen, des es sich um Nebenwirkungen handelte – kein Wunder, er hatte das Präparat in den deutschen Markt eingeführt.
Nach vier Jahren erkannte ich durch einen Internetpost, dass es tatsächlich Nebenwirkungen waren, und begann den langen Prozess der Neueinstellung auf mein altes Valproat.
Dieser Prozess dauerte insgesamt drei Jahre und wurde in den ersten sieben Monaten von schweren Psychosen begleitet, denn das Levetiracetam hatte meine Synapsen verklebt. Als diese wieder aufgingen, kamen alle Informationen und Eindrücke wieder in den Kopf – und ich wusste nicht mehr, wo sie hingehören.
Eine Psychose war die Folge. Ich bin meiner Familie noch immer unendlich dankbar, dass sie das alles mit mir durchgemacht haben. Ein Jahr nach dem Beginn der Umstellung kam mir dann noch meine Brustkrebsdiagnose (auch genetisch) dazwischen. Mehr dazu hier. Doch auch das meisterten wir alles.
Erfahren Sie hier mehr zur Cannabis-Therapie bei Epilepsie.
Das alte Präparat und keine Anfälle
Heute bin ich wieder auf einer hohen Dosis meines alten Valproates sehr gut eingestellt. Einen Grand Mal hatte ich bisher auch nicht. Aber ich bin ein wenig fahrig, habe noch leichte Aggressionen, bin vergesslich, müde und unkonzentriert. Aber diese Nebenwirkungen sind mir lieber, als die des Teufelszeugs.
Ein Leben ohne Anfälle ist ein selbstbestimmtes Leben. Viele Menschen können es sich gar nicht vorstellen, wie es ist, sich nicht auf seinen Körper verlassen zu können. Doch natürlich darf man sich auch nicht selbst verlieren – das Medikament muss zu einem passen, die Nebenwirkungen müssen mit dem Charakter vereinbar sein.
Oft habe ich erfolglos versucht, mein Präparat runterzudosieren. So unterhielt ich mich mit meinem sehr aufgeschlossenen Neurologen über die Möglichkeit des Einsatzes von Cannabis. Er versprach mir, sich in das Thema einzulesen und wir verabredeten einen neuen Termin.
Dieser hat nun stattgefunden. Leider hilft der medizinische Einsatz von Cannabis bei meinem Syndrom nicht. Man könnte es eventuell einsetzen, um zu helfen den Schlafrhythmus zu verstärken, doch dafür ist es dann auch zu teuer. Das verstehe ich sehr gut. Dann bleibt es eben beim Alten.
Aber das ist auch ok so. Ich habe ein tolles Leben und kann sehr dankbar sein. Wer sich meine Geschichte durchliest, dem wird klar: Ohne ein so gutes Umfeld, wie ich es habe, wäre ich schon lange nicht mehr da.
Danke Hendrick. Danke Mathilde. Danke Marlene.
Betroffene finden unter anderem hier Hilfe und Rat.