„Ich hoffe, wir haben heute Geschichte geschrieben“ mit diesen Worten beendete Roland Kahl, neuer Vorsitzender der „Hanfpartei – die wahren Sozialdemokraten“ den Gründungsparteitag am 15. September in Lippstadt. Wir von Leafly.de haben bereits im Juli über die Gründungspläne berichtet. Jetzt hat der gerade gekürte Partei-Chef Roland Kahl unsere Fragen zu den Ideen und Plänen der Hanfpartei beantwortet.
Keine Ein-Themen-Partei: „Unsere Ziele und Lösungskonzepte sind zahlreich“
Leafly.de: Lieber Roland, die Hanfpartei will – trotz ihres Namens – keine Ein-Themen-Partei sein. Was sind denn Eure wichtigsten Forderungen?
Roland Kahl: Unsere Ziele sind, neben der Legalisierung von Hanf als Nutz-, Medizinal- und Genusspflanze, sehr umfassend. Mehrere Programmpunkte sind Alleinstellungsmerkmale.
Beispiel Arbeitsmarkt: Wir beteiligen ausnahmslos alle Bürger fair an der enormen Wertschöpfung der Wirtschaft. Das erreichen wir durch eine „Unterbeschäftigungssteuer“, die auch ein von der Wirtschaft als Steuersparmodell finanziertes Grundeinkommen und damit auch eine Mindestrente von 2.000 Euro beinhaltet. Niedriglöhne, Leiharbeit, befristete Arbeitsverhältnisse, Altersarmut, Hartz IV und Perspektivlosigkeit gibt es nicht mehr. Man könnte auch sagen: Wir unterwerfen die Wirtschaft den Interessen aller Menschen.
Beispiel Steuersystem: Wir schaffen alle heutigen Steuern ab und finanzieren die öffentlichen Haushalte durch „Umsatzprovision“ auf die amtlich erfassten Inlandsumsätze in Höhe von über sieben Billionen Euro im Jahr. Ohne die erheblich steigende Kaufkraft unseres Arbeitsmarktsystems zu berücksichtigen, liegen wir bei einem Steuersatz von 15 Prozent bei rund 930 Milliarden Euro Einnahmen. Berechnet man die steigende Massenkaufkraft ein, liegt es realistisch weit darüber. Dies gibt der Politik enorme Handlungsspielräume, wie zum Beispiel der Sanierung unserer öffentlichen Infrastrukturen, Schulen, Krankenhäuser, Gesundheitsversorgung und vielem mehr.
Alle Einkommensbezieher werden sich freuen zu hören, dass ihr sauer verdientes Geld frei von Einkommens- und Lohnsteuern bleibt. Weitere wichtige Ziele sind Maßnahmen im Bereich Bauen und Wohnen, die Wohneigentum für alle erschwinglich machen sollen.
Wir werden Genmanipulation von Lebensmitteln und Saatgut abschaffen und das Saatgutkontrollgesetz reformieren. Wir halten gentechnikfreie Vielfalt bei allen Nutzpflanzen für unerlässlich. Hanfprodukte sollen vermehrt als Lebensmittel angeboten werden. Sie sind gesund und bei ausreichendem Anbau auch preisgünstig. Dies betrifft natürlich auch den Bereich Landwirtschaft, der mit der Ausrichtung hin zu mehr Qualität profitieren wird.
Unsere Ziele und dazugehörigen Lösungskonzepte sind so zahlreich, dass ich im Rahmen dieses Interviews nur einen Bruchteil aufzählen kann. Unsere Webseite „Programm“ bietet eine Gesamtübersicht.
„Wir halten Cannabis für eine äußerst wertvolle Medizin“
Leafly.de: Wir von Leafly.de interessieren uns selbstverständlich besonders für das Thema Cannabis als Medizin. Wie steht Ihr dazu und was wollt Ihr hier erreichen?
Roland Kahl: Wir halten Cannabis für eine äußerst wertvolle Medizin und wollen hier sowohl die Grundlagen-Forschung als auch die Entwicklung von Medikamenten massiv fördern. Natürlich gibt es bereits Studien – da wollen wir Leafly.de auch sehr für die gute Aufklärung und Artikel danken.
Die vorhandenen Studien geben sehr hoffnungsvolle Hinweise auf die guten Wirkungen und niemand kann noch seriös bestreiten, wie gut Cannabis bei Epilepsie-Erkrankungen, Schmerz-Erkrankungen, Aufmerksamkeitsdefizit-Syndromen, Migräne, Gelenkschmerzen, Arthritis, Arthrose und vielem mehr – aber auch bei verschiedenen Krebserkrankungen – helfen kann.
Es wurde aufgrund der zahlreichen Bestandteile der Cannabisblüten – Cannabinoide, ätherische Öle und viele weitere Substanzen – noch nicht vollumfänglich verstanden, wie und in welcher Kombination diese hilfreich sind. Hier bedarf es noch weiterer Forschung.
„Ich leide an chronischer Migräne“
Leafly.de: Du bist selbst Cannabispatient, nicht wahr?
Roland Kahl: Ja, daher interessiert auch mich persönlich das Thema sehr. Ich leide an chronischer Migräne und habe gemerkt, dass bestimmte Cannabis-Sorten sehr gut gegen die schwere Übelkeit und auch die zuweilen unerträglichen Schmerzen helfen. Durch Cannabis – derzeit bekomme ich Dronabinol verschrieben – konnte ich meine Anfallshäufigkeit auf 1/4 bis 1/5 der früheren Frequenz reduzieren. Auch die Intensität der Anfälle hat sich reduziert. Das hat mir erst die Kraft und Motivation zur Gründung der Hanfpartei – den wahren Sozialdemokraten gegeben. So viel zu dem nach wie vor gängigen Vorurteil, dass Cannabis-Konsumenten (ich nehme es jeden Tag) „nichts auf die Reihe“ bekommen, unmotiviert und antriebschwach seien. Vielmehr ist aus meiner Erfahrung das Gegenteil der Fall.
Wir sehen auch gute Möglichkeiten für kleinere sowie mittlere pharmazeutische Firmen und Apotheken, cannabisbasierte Medikamente zu entwickeln. Angefangen von hoch konzentrierten Vollextrakten, Ölen, Tinkturen, Kapseln und Tabletten, bis hin zu mit bestimmten Bestandteilen der Hanfblüten angereicherten Präparaten für definierte Anwendungen.
Einen Anfang sehen wir gegenwärtig bei CBD-haltigen Cannabis-Präparaten, die zum Beispiel meiner Frau, die einen schwer therapierbaren Bandscheibenvorfall hatte, sehr halfen, die oftmals mit Entzündungsprozessen belasteten Schmerzen stark zu reduzieren. Sie schläft jetzt besser und problemloser. Auch kann sie sich schmerzfreier bewegen.
Natürlich ist Cannabis kein Allheilmittel, jedoch aus unserer Sicht bei vielen Erkrankungen ein sehr gutes Mittel der Wahl – als Komplementärmedizin, beispielsweise bei Chemotherapien gegen die oft schweren Nebenwirkungen, so gut wie unverzichtbar. Ein Arzt, der aufgrund ideologischer Vorbehalte Patienten Cannabis verweigert, begeht aus unserer Sicht Körperverletzung.
Wenn wir nach Israel schauen, wird dort in Alten- und Pflegeheimen Senioren und Pflegebedürftigen Cannabis verabreicht. Mit sehr gutem Erfolg. Es muss völlig normal werden, dass man in einer Apotheke Cannabis-Präparate gegen seine Erkrankungen und Gebrechen erhalten kann.
Hanfpartei will das „weit klaffende Vakuum auf der linken Seite besetzen“
Leafly.de: Die Hanfpartei sagt von sich selbst, dass sie sich als Alternative im linken Wählerspektrum etablieren will. Was habt Ihr den Wählern zu bieten, was die etablierten Parteien nicht haben?
Roland Kahl: Unser Programm bedeutet die Verwirklichung des gebrochenen Versprechens vom Wohlstand für alle. Wir sind der Auffassung, dass es ein sehr großes Spektrum und eine deutliche Mehrheit an Wählern gibt, die „Links“ wählen würden. Genau genommen gibt es derzeit eigentlich gar keine linken Alternativen.
Die SPD hält immer noch an der neoliberalen Agenda 2010 fest, obwohl sie dadurch die Hälfte ihrer Wähler verloren hat. Die Grünen sind im Laufe der Zeit zu einer Art FDP mit ökologischem Touch für Müll trennende Besserverdiener geworden. Die Linke ist nicht links, wenn sie offene Grenzen und damit die Abschaffung des Sozialstaats, weiter steigende Mieten und noch mehr Druck auf die Löhne will. Unsere Position bei der Zuwanderung ähnelt der von Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine, die bei der Linken nichts mehr zu sagen haben. Die tragisch zerrissene Linke hat ihre eigentliche Zielgruppe – die Schwächsten im Inland bzw. das „Proletariat“ – aufgegeben, was dazu führte, dass viele ehemals links eingestellte Wähler sogar die ultraneoliberale AfD als geringeres Übel wählen.
Dieses inzwischen weit klaffende Vakuum auf der linken Seite der politischen Landschaft wollen wir besetzen. Unsere Lösungsansätze sind sehr umfassend und setzen an der Wurzel der zahlreichen Probleme an. Wir sind also „radikal“ in einer sehr konstruktiven und durchdachten Weise. Unsere Erfahrung ist, dass offene Menschen mit einer positiven Vision der Zukunft bei uns ein Forum und Resonanz finden. Das ist ein inzwischen selbst verstärkender Prozess, den wir nach Kräften fördern.
„Das Beispiel der Piraten zeigt uns, was wir besser machen müssen“
Leafly.de: In den letzten Jahren haben sich mehrere kleine Parteien neu gegründet und auch teilweise durchgesetzt: Die Piratenpartei beispielsweise überraschte zuerst mit einem rasanten Erfolg, zerfleischte sich dann aber selbst. Was kann die Hanfpartei besser machen, damit interne Querelen nicht die Zukunft der Partei frühzeitig beenden?
Roland Kahl: Ich verstehe die Frage nach den Piraten sehr gut, denn bei den Ansätzen und möglichen Problemen gibt es Parallelen. Wir erleben gerade in unserer Facebook-Gruppe, was auf uns zukommt: von null auf 1.300 Mitglieder in 3 Monaten. 90 Prozent davon sind laut Facebook Statistik auch aktiv. Wir müssen aufpassen, dass unsere strukturellen Kapazitäten schnell genug mitwachsen.
Gerade neue Parteien, die vielversprechend wirken, ziehen massenhaft Leute an, die ihre eigenen Ziele verwirklichen und die Partei umbiegen wollen. Bei den Piraten wurde ein fruchtloses Tauziehen daraus. Gerade das Beispiel der Piraten zeigt uns, was wir besser machen müssen. Die Piraten sind trotz guter Ansätze vor allem an der Fehlkonstruktion der Parteistrukturen und an der Ignoranz gegenüber den wichtigsten Themen gescheitert. Mit Netzpolitik und Datenschutz gewinnt man keine Wahlen.
„Wir sind die Partei der großen Visionen“
Roland Kahl: Wir gehen offen, freundlich und wertschätzend miteinander um und behalten dies in der Partei und in den von uns betriebenen und öffentlich einsehbaren Diskussionsforen auch bei kontroversen Themen bei. Auf diesem Substrat gedeihen natürlich Begeisterung, Motivation und gute Ideen. Wir sind die Partei der großen Visionen. Ungewöhnliche Ideen verwerfen wir nicht gleich, sondern prüfen sie ernsthaft. So können weitere gute Ideen zu Programmpunkten werden. Wir sind extrem offen, machen keine Geheimnisse, jeder kann alles nachlesen, Fragen stellen und wir helfen einander bei Fragen aller Art. Das erzeugt ein Gemeinschaftsgefühl, dass man so bei anderen Parteien wohl in dieser Form selten findet.
Die Hanfgemeinde ist zu meiner Erleichterung auch ein ebenso progressiver wie freundlicher Menschenschlag. Die Leute sind im Durchschnitt etwas entspannter, sodass auch die Moderation für die Foren-Admins etwas einfacher als im „Normalfall“ ist. Es spricht also auch dies für die Legalisierung von Cannabis.
Die Hanfpartei ist von der Zusammensetzung der Mitglieder sehr heterogen, gerade diese Vielfalt bedingt diesen guten Umgang miteinander. Und die Erfahrung hat gezeigt, dass sich Menschen von uns angezogen fühlen, die sehr gerne ein freundliches, partnerschaftliches Verhalten an den Tag legen. Davon profitieren wir alle – als Partei, aber letztendlich auch als Gesellschaft insgesamt.
Hanfpartei – anstehende Wahlen
Leafly.de: Was sind Eure nächsten Ziele? Wie soll es mit der Partei weitergehen?
Roland Kahl: Unmittelbar nach der Gründung der Hanfpartei werden wir den Landesverband NRW gründen, andere Bundesländer werden in Bälde folgen. Am 15.9. haben wir ebenfalls die Kandidaten für die Europawahl aufgestellt. Nächstes Ziel ist die Sammlung von 4.000 Unterstützungsunterschriften für die Zulassung zu Europawahl im Mai 2019.
Ein weiteres realistisches Ziel ist die Teilnahme an der Hamburger Bürgerschaftswahl – entspricht der Landtagswahl – 2020. Auch zur Bundestagswahl 2021 werden wir antreten, bei entsprechender Berichterstattung sehen wir durchaus Chancen.
Warum? Im Gegensatz zu allen anderen Parteien haben wir die Vision einer viel lebenswerteren Welt – und sowohl den Willen als auch die Möglichkeit, sie umzusetzen. Jede und jeder, dem etwas an einer besseren Zukunft liegt, ist eingeladen, bei uns mitzumachen. Wir sind eine Mitmachpartei.
Hinweis: In diesem Artikel berichten wir über rezeptpflichtiges CBD oder auch Cannabidiol. Dieser Artikel macht zur möglichen Zweckbestimmung keinerlei Vorschlag. Nutzversprechen bleiben den Apothekern überlassen.